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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 20.1904-1905

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Clemen, Paul: Auguste Rodin, [2]
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-a-ä35> AUGUSTE RODIN

stalt mit nacktem Oberkörper, die mit einer
wilden Bewegung unbesiegbarer Kraft auffährt,
die beiden Arme mit den geballten Fäusten
ausreckt und mit geöffnetem Munde zu rufen
scheint, ihr Gewand ist zerrissen, der eine
Flügel ist geknickt — aber ihr Mut ist unge-
brochen. Ein sterbender nackter Krieger bricht
vor ihr zusammen, der linke Arm, der das abge-
brochene Schwert hält, sinkt schwer hernieder;
wie eine Walküre und wie ein Racheengel
schwebt der Genius über ihm. Wenn man
die von der Jury damals preisgekrönte Gruppe
des Barrias dagegen stellt, die jetzt den Rond-
point de Courbevoie schmückt: wie lahm und
ausdruckslos ist sie, wie sehr lebendes Bild,
während aus dem Rodinschen Entwurf etwas
wie der Racheschrei einer Mutter aufzusteigen
scheint, der man den einzigen Sohn vor ihren
Füßen getötet hat.

Im Jahre 1883 ward Rodin der Auftrag zu-
teil, für Claude Lorrain ein Denkmal in Nancy
zu schaffen. Erst nach langen Kämpfen fand
das Standbild, das schon 1889 ausgestellt,
zuerst zurückgewiesen worden war, im Jahre
1892 Aufstellung in Nancy (s. Abb. S. 321).
In dem Park der Pepiniere steht es frei in
einer kleinen Lichtung auf dem Rasen vor
alten Bäumen. In dem einen vielleicht hatten
die Kritiker von Nancy recht: das war nicht
das getreue Bild des großen Landschafters,
das sie vielleicht suchten. Der ehemalige
Pastetenbäcker hat hier einen Zug ritterlicher
Kraftfülle bekommen, der ihm wohl fehlte;
und wenig entspricht auch der wilde Sockel
der klaren und ungetrübten Seelenstimmung,
dem reinen und ruhigen Schönheitsgefühl,
das seine Bilder atmen. Den erobernden
Künstler und den künstlerischen Genius hat
Rodin hier geschildert wie im Victor Hugo
den in sich versunkenen Dichter und die
dichterische Inspiration. Der Künstler oben
als Bronzefigur, in hohen Stiefeln, in einer
kühnen, leicht vornübergebeugten Haltung,
in der Linken die Palette, in der Rechten den
Pinsel, das Haupt mit dem vollen, in den
Nacken flutenden, imWinde flatternden Locken-
schmuck, der zugleich dem energischen Ge-
sicht mit dem kurzen harten Schnurrbart den
Rahmen gibt. Der Unterbau besteht, zwischen
dem Sockel und der Abschlußplatte, die beide
recht wenig architektonisch profiliert erschei-
nen, aus einem einzigen großen, auf dreiSeiten
nur ungefähr behauenen Steinblock; auf der
Vorderseite aber brechen mit einer Bewegung
von beispiellosem Ungestüm zwei schäumende
Rosse aus dem Stein heraus, hinter ihnen ihr
Lenker, der Sonnengott Apollo. Eine un-
widerstehliche Gewalt liegt in dieser Bewe-

gung, das siegreiche Genie selbst ist es, das
die Sonnenrosse hier vorwärts treibt.

Rodin hat noch einmal, an dem Sockel für den
argentinischen Präsidenten Sarmiento (1898)
einen ähnlichen belebten Steinblock ange-
bracht: hier schwebt Apollo, den Bogen in
der Rechten, als Hydratöter aus dem Stein
heraus, gleich züngelnden Feuerflammen um-
gibt und umschließt ihn noch der Stein. Aber
dort ist es noch ein wirkliches Relief, durch-
aus steinmäßig, und man möchte auf die
Figur des Gottes das Wort anwenden, das
Justi einmal von Michelangelo gebraucht:
wie ein Schwimmer, dessen Leib noch von
den Wellen umflossen ist. In Nancy ist der
Rahmen des Reliefs völlig zersprengt, die
Rosse und der Wagenlenker zur Hälfte voll
plastisch ausgearbeitet. Die wunden Stellen
dieser Behandlungsart enthüllen sich erst in
den Seitenansichten des Sockels, die Art,
wie die Rosse hier aus dem Stein sich los-
lösen, herauswachsen, hat in dieser Ansicht
immer etwas Befremdliches. Gerade dies
Denkmal ist nicht auf volle Ansicht von
allen Seiten berechnet.

Im Jahr 1895 wurde in Calais, am Eingang
in die alte Stadt, vor dem Jardin Richelieu,
das seltsame Denkmal der Bürger von Calais
errichtet, Rodins umfangreichste Monumental-
schöpfung (s. Abb.S. 323-327). Essoll die Er-
innerung an die sechs Bürger festhalten, die
im Jahre 1347, bei der Belagerung von Calais
durch König Eduard III. von England, sich
für ihre Stadt opferten. Froissart erzählt in
seiner Chronik die Geschichte in dem Kapitel:
„Wie der König Philipp von Frankreich die
Stadt Calais nicht befreien konnte und wie
König Eduard von England sie einnahm." Die
Stadt ist ausgehungert, aller Widerstand um-
sonst, der Belagerer verlangt Uebergabe auf
Gnade und Ungnade; aber endlich verspricht
er, das Leben der Bewohner zu schonen,
unter der Bedingung, daß sechs der vornehm-
sten Bürger aus der Stadt ihm entgegen-
kommen, barhäuptig und barfuß, den Strick
um den Hals und die Schlüssel der Stadt
und des Schlosses in ihren Händen; mit ihnen
wolle er nach seinem Gutdünken verfahren.

Der Bürgermeister Messire Jean de Vienne
läßt die Glocken läuten, versammelt das Volk
in der großen Halle. Ein Jammern und Weh-
klagen steigt zu den Gewölben auf, wie die
Bedingung verkündigt wird. Aber unter den
Männern, die hier versammelt, erheben sich
einer nach dem anderen die Helden, die
bereit sind, für ihre Stadt zu sterben. Zuerst
tritt der reichste Bürger der Stadt vor —
Männer und Frauen werfen sich ihm weinend

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