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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 26.1910-1911

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Vollmer, Hans: Schein und Wirklichkeit in der Kunst: eine ästhetische Betrachtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.13089#0412

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SCHEIN UND WIRKLICHKEIT IN DER KUNST

nicht einen Zoll länger sein, wenn der wunder- Figur tatsächlich das ganze linke Bein fehlt!
bare rhythmische Zusammenhang der Figuren- Oder wer wird es Meister Schwind als einen
gruppen gewahrt bleiben sollte. Die bekannte „Fehler" anrechnen, daß er seine reizende
Leda der Borghese-Galerie in Rom, eine auf Schifferin der Schack-Galerie so auf die vor-
ein Leonardo'sches Vorbild zurückgehende Re- derste Spitze ihres Nachens gestellt hat, daß
plik von unbekannter Hand, zeigt ein unmög- sie in Wirklichkeit das Fahrzeug sofort in den
liches Größen verhältnis zwischen der Figur und Grund drücken müßte!

dem Schwan, der aber erst so in seiner Rolle Diese Art von selbstverständlich anmutender
als Liebhaber glaubhaft wird. Oder man denke künstlerischer Vergewaltigung der natürlichen
an den Idealismus der Auffassung, den die alte Logik, die das Auge ganz naiv ohne weiteres
Kunst bei der Behandlung des Kruzifixus ent- zu perzipieren gezwungen wird, hat Manet
wickelt! Und selbst der als krassester Realist seiner Komposition nicht mitzuteilen gewußt,
verschriene Matthias Grünewald schlägt der Und es heißt einen starren Formalismus pro-
Wahrheit mit unerhörter Künheit ins Gesicht, klamieren, wenn man den Einwand, daß die Sol-
indem er die Größenmasse seines am Holze daten ja Löcher in die Luft schießen, mit dem
hängenden Dulders in das unnatürlich Gigan- Hinweis auf die Schönheit der Komposition
tische gegenüber den Begleitfiguren steigert, entkräften zu können meint. Wenn Manet
ohne daß man diesen Wechsel im Maßstabe die unverkürzten Horizontalen der Flintenläufe
doch als widernatürlich empfände. Mit Staunen durchaus brauchte, so mußte er in den Figuren-
fühlt man nur, wie diese eine Figur alle andern gruppen rücken. Wie wenn er nun unglück-
beherrscht, und erst die analysierende Ver- licherweise reine Vertikalen gebraucht hätte !
Standestätigkeit erkennt als die Ursache der- Würde Liebermann auch kerzengerade gen Him-
artiger phänomenaler Wirkungen diese „Inkor- mel gestreckte Gewehrläufe verteidigen? Und
rektheit" der Wirklichkeit gegenüber. Welcher hier liegt doch wirklich nur ein gradueller Un-
unvoreingenommene Beschauer, der der herr- terschied vor. Aber auch Manets Erschießung
liehen Stuttgarter Iphigenie Feuerbachs gegen- Kaiser Maximilians bietet ein treffliches, wenn-
übertrat, hätte wohl schon bemerkt, daß der gleich meines Wissens nirgends bemerktes Bei-
spiel für die nicht
nur zulässige, son-
dern im Interesse
der Bildwirkung
geradezu notwen-
dige Verschleie-
rung der wirkli-
chen Verhältnisse.
Sechs Leute legen
auf den Kaiser an,
aber nur drei
Flintenläufe be-
kommt man zu
sehen. Sechs dicht
übereinanderge-
führte Parallelen
hätten eine rich-
tungslose Masse
ergeben, die ohne
Energie geblieben
wäre; ummitvoll-
ster Prägnanz aus-
zudrücken, was
ausgedrückt wer-
den sollte, durften
esebennicht mehr
wie drei sein. So

j. w.schülein Armeleuteviertel in brOgge sind es die uner-

Frühjahr-Ausstellung der Münchner Secession bittlichen Bringer

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