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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 37.1921-1922

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Hildebrand, Adolf von: Über das Generelle und Individuelle in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14154#0035

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ÜBER DAS GENERELLE UND INDIVIDUELLE IN DER KUNST

Von Adolf von Hildebrand f

Wenn wir in der bildenden Kunst von ihrem
Spezialgebiet, nämlich von der Gestaltung
der Erscheinung als rein optischem Problem,
absehen und die Natur in ihren Lebensformen
und Lebensäußerungen als Wirklichkeit in Be-
tracht ziehen, so ist eine der interessantesten
Fragen das Verhältnis des Individuellen zum
Generellen.

Ich meine hier selbstverständlich nicht das
Individuelle des Künstlers, sondern das des
dargestellten Objektes. Am schärfsten tritt uns
diese Frage entgegen, wenn wir das Verhältnis
des Künstlers zur Natur nach den zwei ver-
schiedenen Seiten verfolgen, die sich von selbst
ergeben, dem Darstellen nach der Natur wie.
beim Porträt und dem freien Schaffen aus der
Vorstellung.

Geht die künstlerische Darstellung wie beim
Porträt von einer gegebenen Erscheinung aus,
so entsteht nur dann ein lebendiges Bild, wenn
das Individuelle auch als Lebensausdruck des
Generellen verstanden und gegeben ist. Wir
müssen den Eindruck bekommen, daß sich z. B.
bei einem Kopf der Augapfel drehen, der Mund
sich öffnen, die Kinnladen sich bewegen können.
Denn es ist klar, daß alles, was wir als Lebens-
äußerung empfinden, durch den generellen
Apparat (Stoff und Organismus mit seinen
Lebensfunktionen) entsteht und daß das so-
genannte Individuelle nur in den verschiedenen
Formverhältnissen und im Vorwiegen bestimm-
ter genereller Eigenschaften liegt. Soweit wir
eine gegebene Wirklichkeit als Ausdruck des
Generellen erfassen, wird sie uns verständlich
und zu einer lebendigen Wahrheit, insofern sie
aber von außerhalb liegenden und nicht er-
kennbaren Ursachen abhängt, müssen wir sie
als einfaches Faktum hinnehmen. Es besteht
z. B. bei einem Kopf mit spitzer Nase und
langem Kinn zwischen den beiden Formen kein
sich bedingender Zusammenhang. Eventuell
aber ein künstlerischer, als gegebener Augen-
eindruck, von dem ich ja hier absehen will,
dessen Stellung aber hierbei klar wird. Jede
Zusammenstellung von Formverhältnissen ist in

Diesen Aufsatz schrieb Hildebrand um IQI2, kam aber
nicht dazu, ihn ganz bis zu seiner Zufriedenheit zu vollenden;
darum blieb er unveröffentlicht, obwohl dem Meister viel an
dieser Schrift gelegen war. Es sollte auch noch einiges hinzu-
kommen; die Ausführungen sind daher als Fragment zu be-
trachten.

der Natur möglich, sobald sie organisch lebens-
fähig ist. Mit dieser Möglichkeit ist der un-
endliche Reichtum der Naturerscheinung ge-
geben, die Fülle der Manifestationen des Wirk-
lichen. Wir können also dem Naturgebilde ein
doppeltes Interesse entgegenbringen, insofern
es uns als Verkörperung des Generellen eine
allgemeine Wahrheit, das ist Leben ausdrückt
und insofern es uns als Sonderfall des Wirk-
lichen um ein neues Bild des Lebendigen be-
reichert. Wir können diese zwei Interessen sehr
wohl trennen und die Begabung des Künst-
lers je nach dem Vorwiegen des einen oder
anderen unterscheiden. Das heißt, der eine
sucht in der Natur nach dem ständigen Aus-
druck des Generellen, der andere freut sich an
dem Charakter der Verschiedenheiten.

Der Sinn für das Leben und für das Le-
bendige ist zweierlei. Für ein gutes Porträt
sind beide Interessen unerläßlich. Denn wenn
auch künstlerisch die Lebensstärke an sich, wie
sie allein durch das Generelle zustande kommt,
ausschlaggebend ist, so ist doch das Interesse
am Sonderfall und an der Ähnlichkeit der Aus-
gangspunkt für das Porträt und es verlangt
das volle Aufgehen im tatsächlich Gegebenen.

Da die bildende Kunst die Natur nur als
Erscheinung eines bestimmten Moments und
Zustandes geben kann, als ein einmaliges Si-
tuationsgebilde, so muß der Künstler einen
Einzelfall des Individuellen wählen, z. B. einen
Kopf in der oder der Bewegung. Damit tritt
er schon aus dem engen Rahmen des einfach
Gegebenen, denn die Wahl ist ein freier, geistiger
Akt gegenüber der Wirklichkeit und setzt vor-
aus, daß wir in unserer Vorstellung zu einer
Überzeugung über die Wirklichkeit gelangt sind.
Alle Beobachtung schließt ja überhaupt ein
stetes Einreihen und Einordnen in unsere Er-
fahrung ein, ist ein Akt der Assimilierung,
wobei der frische Eindruck und die bisherigen
Erfahrungen zusammenstoßen.

Das Gelingen der Darstellung hängt davon
ab, ob eine Einigung beider zustande kommt
oder nicht. Die Vorstellungen, die dabei mit-
sprechen, gelten jedoch nicht dem Tatbestand
der Natur allein, sondern auch der künst-
lerischen Erscheinung und dem optischem Pro-
blem und gehören deshalb nicht mehr in den
Rahmen dieser Untersuchung.

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