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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 37.1921-1922

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Diderot, Denis: Denis Diderot - Gedanken über die Malerei (1763)
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https://doi.org/10.11588/diglit.14154#0421

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einem Werke unter dem Titel „Polymetis" zu
beweisen. Man sieht darin auf einer Seite Zeich-
nungen der schönsten antiken Kunstwerke und
gegenüber die entsprechenden Verse der Dichter.

Wir kalten und devoten Völker sind immer
von Gewändern umhüllt; und ein Volk, das
niemals Nacktheit sieht, weiß nicht, was na-
türliche Schönheit und feine Proportionen sind.

Praxiteles schuf zwei Venusfiguren: eine be-
kleidete und eine nackte. Kos kaufte die erste,
die keinen Ruhm genoß, und Knidos war auf
ewig durch die zweite berühmt.

Wenn wir eine Venus haben, so ist es aller-
höchstens die bekleidete Venus von Praxiteles.

Poussin, der etwas von der Sache verstand,
sagte von Raffael, daß er ein Adler unter den
neueren Künstlern sei, aber ein Esel gemessen
an den antiken. Das kommt daher, daß es
nicht gleichgültig ist, zu schaffen

Ut fert natura ... an de industria.

(Terentius, Andria, IV, 7.)

Dieses Wort des Davus bei Terenz paßt
von selbst auf alle unsere Künstler.

Unsere Sitten haben sich durch die Zivili-
sation abgeschliffen, und ich glaube nicht, daß
wir bei unseren Malern oder Dichtern gewisse
Vorstellungen ertrügen, die wahr und stark

sind und weder gegen die Natur noch gegen
den guten Geschmack verstoßen. Wir würden
mit Entsetzen die Augen von der Seite eines
Dichters oder der Leinwand eines Malers ab-
wenden, der uns das Blut der Gefährten des
Odysseus zeigen würde, das zu beiden Seiten
an Polyphems Munde herabströmt und auf
seinen Bart und seine Brust herabrinnt, und
der uns das Krachen ihrer Knochen verneh-
men ließe, die er mit seinen Zähnen zermalmt.
Wir könnten den Anblick der bloßgelegten
Adern und der springenden Arterien am bluti-
gen Leibe des von Apoll abgehäuteten Marsyas
nicht ertragen. Wer von uns würde sich nicht
über die Barbarei entsetzen, wenn einer un-
serer Dichter in einem Werk unserer Zeit einen
Krieger auftreten ließe, der sich mit folgenden
Worten an seinen Gegner wendet: „Deine
Eltern werden dir die Augen nicht schließen.
In einem Augenblick werden sie dir die Krähen
aus dem Kopfe hacken; ich sehe sie schon
über deinem Leichnam vor Freude mit den Flü-
geln schlagen." Und doch haben die Alten
solche Dinge gesagt und solche Bilder gemalt.
Muß man ihnen Roheit vorwerfen? Müssen
wir uns im Gegenteil Schwächlichkeit vorwer-
fen? Non nostrum est . . .

RUDOLF GROSSMANN DÜNEN

Ausstellung der Münchtier Neuen Secession

39°
 
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