Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 39.1923-1924

DOI Artikel:
Christoffels, Ulrich: Heinrich Wölfflin: zu seinem 60. Geburtstag am 21. Juni 1924
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14151#0288
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
HEINRICH WÖLFFLIN

Zu seinem 60. Geburtstag am 21. Juni 1924

Edwin Scharff hat in seiner vornehmenBildnisbüste
Heinrich Wölfflins, die die Münchner Schüler
dem Gelehrten zu seinem Abschied überreichten,
zwei Züge bedeutsam hervorgehoben: einmal das
in konsequenter Linie durchgeführte Profil des Den-
kers, und dann die um das Auge spielende Energie
des künstlerischen Sehens: eines Sehens, das den
Gegenstand scharf und unerbittlich anfaßt und zu-
gleich passiv allen Anregungen des Sinnlich-Far-
bigen-Individuellen sich eröffnet. Wir wüßten nicht,
wie man Heinrich Wölfflin besser ehren könnte, als
wenn man dieses Bildnis Scharffs als lebendige, un-
vergeßliche Vorstellung in sich aufnimmt: in jenem
organischen Zusammenhang des Denkens und Emp-
findens, der festgefügten Bestimmtheit der Intelli-
genz und der Unendlichkeit des Lebens liegt das
Wesen des großen Gelehrten.

Heinrich Wölfflin wurde als Sohn des spätem
Münchner Latinisten Eduard Wölfflin in Winter-
thur geboren, verbrachte aber den größten Teil der
Schuljahre in Erlangen und München, wohin sein
Vater nacheinander von den Universitäten berufen
wurde. In München begann er auch die akademische
Lehrtätigkeit. Im Jahre 1893 wurde er als Nach-
folger Jakob Burckhardts nach Basel berufen, und
nun entwickelte sich seine Lauf- und Lebensbahn
in drei großen Perioden, von denen jede gleich-
zeitig durch ein wissenschaftliches Werk charak-
terisiert wird. Auf Basel, wo die „Klassische
Kunst" entstand, folgte ein Dezennium in Berlin
(1901 —1911), in dem Wölfflin, der Heimat des Klas-
sischen örtlich entrückt, sich in die Kunst Albrecht
Dürers vertiefte, und auf Berlin folgte München, wo
seine akademische und wissenschaftliche Wirksam-
keit den größten Umfang und die letzte Höhe er-
reichte. Diese Jahre des gereiften Alters waren der
Ausdeutung der „Kunstgeschichtlichen Grundbe-
griffe" gewidmet.1

Wenn alle überhaupt mögliche Erkenntnis über
Kunst entweder philosophisch oder historisch sein
kann, d. h. entweder von der systematischen Aesthe-
tik oder von der Kulturgeschichte den Ausgang
nehmen muß, so wählte Wölfflin im Gegensatz zu
den meisten Zeitgenossen die philosophische Metho-
de. Er gab damit der Kunstgeschichte als Wissen-
schaft die Form und wohl sogar die einmalige Voll-
endung. Es war aber das Philosophische für Wölfflin
nie der Selbstzweck des Denkens, und er hat es auch
immer vermieden, die Begriffe „logisch" aus sich
selbst abzuleiten und zu begründen: das Philosophi-
sche war eine Anlage seiner Natur, die aus dem Un-
bestimmten zum Verständlichen, vom Vieldeutigen
zum Einfachen zu gelangen suchte. Die Reinlichkeit
des klassischen Menschen fordert auch im Denken
faßbare, körperhafte Realitäten, auf die er sich er-
kennend und lehrend stützen kann. Die Kunstbe-
trachtung, die zu Begriffen führt, ist gegenüber der
bloß historischen schöpferisch aufbauend und damit
künstlerisch. Das Historische im allgemeinen blieb
für Wölfflin eine Hintergrundsidee, die er wie Kant
das Metaphysische stillschweigend in seine Rech-
nung einbezog,da sie der sonoreResonanzboden aller
seinerBegriffe war. Aber von Lehrer zu Schüler ist
eine Verständigung über die Hintergründe, über das
dämmernd Ahnungsvolle alles Künstlerischen und
Geistigen nicht möglich: wer nur einmal zuerst
gründlich, unerbittlich und wahrhaftig erkennen
lernt, was im Vordergrund geschieht, dem eröffnen
sich in einembestimmtenMomente die Hintergründe

von selber. Vom Philosophischen, Induktiven aus-
gehend, wurde Wölfflin der Begründer einer syste-
matischen Kunstwissenschaft, die vom Nur-Aesthe-
tischen ebenso weit entfernt war als vom Nur-
Historischen. WennWölfflin gegenüber der Kunst
und gegenüber dem Schüler die höchste Verant-
wortung trug, nur von mitteilbaren Sachlichkei-
ten zu handeln, so besaß er das natürliche Ge-
wicht des Wortes, das einfache und nüchterne Be-
griffe wie Einheit, Vielheit, Klarheit, Fläche zuIdeen
erhebt. Was bedeuten die kunstgeschichtlichen
Grundbegriffe dem, der sie mit kalter Logik nach-
denkt und wiederholt? Was werden sie aber dem,
der das Blitzezucken und Donnergrollen des Geistes
vernimmt, der im„Begriff"dieRätsel des geschicht-
lichen Geschehens in der Kunst berührt und der aus
der Sachlichkeit des Wortes und aus der Energie des
Sehens das Absolute der künstlerischen Form, das zu
allen Zeiten dasselbe bleibt, darzustellen vermag!

Die erste gelehrte Arbeit Wölfflins„Renaissance
und Barock" (1889) untersuchte am Beispiel der
römischen Architektur des i6.Jahrhunderts die Ver-
änderung der Stileigentümlichkeiten der Renais-
sance und zeigte, wie ihre Ausbildung und Steige-
rung in der letzten Konsequenz den neuen Stil her-
beiführten. Schon dieses Buch war dadurch bedeut-
sam, daß die geschichtliche Entwicklung des Stils
aus einer Antithesis abgeleitet und in ihrem Verlauf
als notwendig erkannt wurde. In der „Klassischen
Kunst" (1898) fand die persönliche Anschauung
Wölfflins von der Gesinnung und Würde des klassi-
schen Menschen am Beispiel der reifen Kunst der
Leonardo, Bramante, Raffael, Michelangelo, Tizian
eine wissenschaftliche Formulierung, wie sie ebenso
unzeitgemäß war als sie unveränderlich in der Gel-
tung bleiben wird. Die Begriffe des Klassischen wur-
den hier aus dem Gegensatz des 16. zum 15. Jahrhun-
dert entwickelt. Weil das Klassische das „Gesunde"
und „Natürliche" ist, wurde Wölfflin in einer durch-
aus unklassischen Zeit zum Erzieher an einer ganzen
Generation junger Menschen, denen seine Anschau-
ungnot- und wohltat. In der„KunstAlbrechtDürers"
(igo6) stellte derGelehrteschließlichandem größten
deutschen Künstler die Entstehung des Klassischen
im Norden dar: wie der Nürnberger Maler in der Be-
rührung mit der italienischen Kunst zur Erkenntnis
eines absoluten Schönheitskanons gelangte und in
schweremRingen langsam die Vollendung der Form
erreichte.Die„KunstgeschichtlichenGrundbegriffe"
(1915) nahmen das Thema Renaissance und Barock
wieder auf, um nun im Rahmen der großen mensch-
lichen Zeitalter des 16. und 17.Jahrhunderts Einheit
und Gegensätze, wie sie in allen Stilperioden sich wie-
derholen müssen, aufzudecken und in einfachen Be-
griff spaaren hervorzuheben. Hinter diesen Begriffen
werden die allgemeinen Umrisse eines noch wesent-
licheren Gegensatzes der südlich-italienischen und
nordisch-germanischen Kulturkreise wahrnehmbar,
diesichindenKulminationenRaffaelundRembrandt
gegenübertreten.Noch mehr eröffnen sich hinter die-
sen Begriffen einige Seiten des Menschlichen, wie sie
Scharff in seiner Büste verschwiegen hat. Wir wollen
die Grenzen der Ehrfurcht, die der Bildhauer setzte,
nicht überschreiten und die Hintergründe nicht be-
leuchten, die absichtsvoll im Dunklen blieben. Doch
vergessen wir auch nicht, was Goethe meinte: daß der
Mensch doch bei allemdaslnteressanteste bleibe.Das
Interessanteste, das Wesentlichste, das Unvergeß-
lichste! Ulrich Christoffel

272
 
Annotationen