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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 46.1930-1931

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Heilmaier, Hans: Der Maler Gino Severini
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https://doi.org/10.11588/diglit.16478#0008

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DER MALER GINO SEVERINI

Die italienischen Maler und Bildhauer werden
nicht allein unter dem Beistand eines Namens-
heiligen aus der Taufe gehoben, sondern sichern
sich auch einen Schutzpatron der Künste. Es
gibt in der Tat kaum eine Stadt, ein Dorf im
Lande Giottos, wo nicht der mehr oder minder
glorreiche Name eines „pittore" in den Gemein-
debüchern eingeschrieben stünde.
Severini, der 1883 in Cortona geboren wurde,
ist in der Wahl eines solchen Schutzpatrons
besonders glücklich gewesen. War doch Luca
Sienorelli. einer der markantesten Zeichner
unter den Renaissancemeistern, in derselben
Stadt zur VS elt gekommen. Man könnte darin
ein günstiges Fatum sehen, aber es trifft so
ziemlich für alle italienischen Künstler ein
gleiches zu.

Kultur und Geschichte haften sich in Italien
mehr als irgend sonstwo an die Fersen der Le-
benden. Die ersten Gesichtssinnes-Erlebnisse
junger Messebesucher stehen unter dem Eindruck
des Triptychons der heimatlichen Pfarrkirche.
Die Fresken klösterlicher W artdelgänge fordern
zu naiver Kunstbetrachtung auf.
Es ist ein elementarer Irrtum des heutigen Kunst-
papstes Marin etti, wenn er glaubt, durch einen
künstlich verlängerten Futurismus den Hang
des italienischen Künstlers zum Traditionellen
ausrotten zu können. Die nicht im Fahrwasser
der Marinetti-Gruppe steuernden modernen Ita-
liener haben denn auch begriffen, daß ohne die
Tradition nicht auszukommen sei. Zwischen
dem blinden Vergangenheitskult verbohrter Aka-
demiker und der stagnierenden, innerlich leer
gelaufenen Revolte des Futurismus von 1930 gab
es noch ein Drittes: die entschlossene klare Neu-
einstelluner zur Kunst der Alten, was im Grunde
kein Hindernis für eine zeitempfundene Gestal-
tung war. Hauptsache, man begriff die W erke
der Ahnen nicht dem Buchstaben nach, sondern
aus dem lebendigen Geist ihrer Schöpfer heraus.
Cimabue, Uccello, Perugino waren Exponenten
ihrer Epoche, ohne das Ethische, die Wurzeln
ihrer Herkunft, zu verleugnen. Eine wertvolle
Erkenntnis, die den Jungen — mochten sie un-
ter der Fahne der Valori plastici, des Novecento
italiano oder der Pittura metafisica segeln —

das ins Schwanken geratene Selbstbewußtsein
stärkte. Der Atavismus war nun plötzlich kein
drohendes Gespenst mehr, wohl aber die histo-
rische und biologische Voraussetzung für das
künstlerische Schaffen der Gegenwart.
Severini verbrachte seine frühe Jugend bei den
Großeltern und kam 189g mit seiner Mutter
nach Rom. Dies war eine Zeit der bittersten Not.
Der Sechzehnjährige arbeitete als Rechnungs-
führer in kaufmännischen Betrieben, ohne mehr
als das Allernotwendigste zu verdienen. Sein
heißer Wunsch war, zu malen, iqoi lernt er
Boccioni kennen, neben Carrä. Russolo, Balla
und Severini selbst einer der Begründer des
Futurismus. Zwei Jahre später zeigt der in dieser
Zeit hellauf für die französischen Impressionisten
begeisterte Anfänger seine erste Ausstellung in
Rom. 1905 landet er in Paris, wo er seinem
Landsmann Modigliani begegnet. Selbstverständ-
lich wohnt er auf dem Montmartre, wo die Dich-
ter Apollinaire und Max Jacob, die Maler Juan
Gris, Picasso, Braque, DufY und mit ihnen der
ganze Schwärm einer ideenreichen, aber bettel-
armen Künstlerjugend hauste. ^ orübergehend
liebäugelt Severini mit dem Gedanken, Flieger
zu werden. Aber nur vorübergehend. Sein Schick-
sal entscheidet anders. 1910. .Manifest des Fu-
turismus. Marinetti propagiert überall im Aus-
lande, so auch in Paris, für die neue Bewegung.
Severini schließt sich ihr an und ist (Boccioni
und die übrigen Bannerträger leben in Italien)
der einzige Vertreter dieser Kunsttendenz in
Frankreich. Werke wie „Reiseerinnerungen"',
„Bai Tabarin-, „Tanz des Pan-Pan im Monico"
und die ..Tänzerin" gehören jener Epoche an,
wo die Leinwand zum Schauplatz verwirrenden
Farbentaumels, sich durchbrechender und inein-
anderschachtelnder Gegenstandsformen wird.
Sie hängen heute in den bedeutendsten Samm-
lungen Europas. W7ir sehen nachträglich in die-
sen spontanen Gefühlsausbrüchen der Futu-
risten (derjenigen von 1911 und nicht von 1930)
einen berechtigten Empörungsakt gegen den
tristen Geisteszustand der Malerei dortzulande.
Andrerseits blieb die futuristische Attacke nicht
ohne Echo. Waren doch schon Parallelbewe-
gungen hierzu vorhanden. Der Kubismus in

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