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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 46.1930-1931

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Heise, Carl Georg: Overbeck und die Nazarener: ein Deutungsversuch aus dem Geiste unserer Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.16478#0249

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OVERBECK UND DIE NAZARENER

EIN DEUTUNGSVERSUCH AUS DEM GEISTE UNSERER ZEIT

Das nazarenische Kunstschaffen steht heute im
Zeichen veränderter Bewertung, nicht zuletzt
bewirkt durch schöpferische Kräfte der Gegen-
wart, die mit ähnlichen Waffen vorstoßen wie
die Lucasbrüder in Rom vor mehr als hundert
Jahren. Im weiten Reich der deutschen Roman-
tik indessen, wenn wir seine Grenzen spannen
von Philipp Otto Runges Zaubergarten bis zur
gottsuchenden Leidenschaft Ernst Barlachs, der
noch in unseren Tagen mit Gott und Teufel
fruchtbar Zwiesprache hält und von diesem Er-
leben seinen künstlerischen Ausdruck bestimmen
läßt, bedeutet der Kunstweg Overbecks und der
Nazarener nur einen bescheidenen Seitenpfad,
der sich in gefährlichem Dunkel verliert.
Am Anfang der Bewegun g aber — das ist vor allem
das fruchtbare zweite Jahrzehnt des deutsch-
römischen ig. Jahrhunderts — ist der Geist rein,
die kindliche Bilderschrift der Jünglinge voll
des heiligen Feuers. Die jungen Meister, vom
Zopf und Schlendrian der Wiener Akademie ent-
täuscht, suchen in Rom im Anblick der Alten
etwas Entscheidendes, Unentbehrliches wieder-
zugewinnen, was auf der ganzen Linie verloren-
gegangen war: die Einheit von Kunststil und
Lebensstil, von schöpferischer Form und W elt-
anschauung. Allzu leicht sind wir heute geneigt,
diesen \erlust auf das Schuldkonto unseres
20. Jahrhunderts zu setzen, das ihn allerdings
mit voller Wucht allgemein fühlbar gemacht
hat, während ihn in Wahrheit schon das
ig. Jahrhundert erschreckend heraufgeführt hat.
Etwas von der Sehnsucht nach Überwindung
dieses \erlustes ist in allen Programmen zu
spüren von der Zeit um 1800 bis heute, ohne
daß sie bisher auch nur einmal wirklich erfüllt
wrorden wäre. W enn Caspar David Friedrichs
Landschaftsvisionen, jene ganz aus einsamem,
persönlichstem Erleben geborenen „Erdleben-
bilder", bei aller Kontaktlosigkeit mit der Masse
seiner \ olksgenossen zu seinen Lebzeiten, doch
so tief ins W esentliche vorzudringen vermochten,
daß sie Elemente wenigstens einer zukünftigen
V olkstümlichkeit enthielten, die heute offenbar
geworden ist, so bedeutet Overbecks christliche

Gesinnungskunst, die sich Wiedergewinnung
eines Kunst und Leben verbindenden Gemein-
schaftsgeistes leidenschaftlich zum Ziel setzte —
von einzelnen heroischen Ansätzen abgesehen —
einen typischen Fehlversuch. Freundschafteines
kleinen Kreises gleichgestimmter Seelen, der
Maler des 180g gegründeten Lucasbundes unter
Overbecks Führung, hat zwar das von Mit- und
Nachwelt ehrfürchtig bestaunte Phänomen der
nazarenischen Malerei hervorgebracht, doch was
als \olkskunst gedacht war. das blieb gerade im
eigentlich künstlerischen Bezirk richlungsbe-
dingter Ausdruck einer Sekte.
Gewiß ist die Generation unserer Väter, die noch
unter den Folgen der erstarrten Spätzeit der
Bewegung zu leiden hatte, sehr ungerecht ge-
wesen in ihrer Beurteilung des Nazarenertums.
Die erste deutsche Kunstgeschichte des ig. Jahr-
hunderts, die i8gg erschienene, glänzend ge-
schriebene des Cornelius Gurlitt, unterstreicht
den Spott und Hohn der kritischen Zeitgenossen
des Overbeckschen Kreises nicht ohne Gehässig-
keit, deckt das Lächerliche auf, „ce certain char-
latanisme de simplicite, qui faitrire", über den
Madame de Stael gewitzelt hat. Vergessen wir
demgegenüber nicht, daß nicht nur die gesehau-
spielerte Simplizität, sondern auch die echte Ein-
falt des Herzens den geistreichen Kindern die-
ser Welt ein Greuel ist: sie lachen darüber aus
Notwehr. Von der Generalion, die darunter ge-
litten hat, wie die völlig steril gewordene Devo-
tionalien-Malerei der Overbeck-Epigonen das
Genie eines Manet etwa am Aufstieg hat behin-
dern können, dürfen wir billigerweise eine ob-
jektive Beurteilung auch der Führer dieser Be-
wegung nicht erwarten. Erst wir, die wir es
haben erleben müssen, daß keine der großen
künstlerischenW eltbewegungen derletztenJahr-
zehnte — weder die staunenswerten Höchstlei-
stungen malerischer Kultur, wie sie der Impres-
sionismus gebracht hat, noch auch die wellan-
schaulich so viel weiter ausgreifenden Ziel-
setzungen des Expressionismus — die Kluft hat
schließen können zwischen den Schaffenden und
dem V olke, zwischen Kunst und Leben, daß

Kunst für Alle. Jahr^. 4ij, Heft 8, Mal 1931

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