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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 47.1931-1932

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Herke, Karl: Goethes Urerscheinungslehre und der Surrealismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.16479#0323

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GOETHES URERSCHEINLINGSLEHRE

UND DER SURREALISMUS

1932 jährte sich der Todestag Goethes zum hundert-
stenmal; nie ist Goethe lebendiger gewesen als heute.
Ich glaube nachweisen zu können, daß zur neuesten
französischen Kunstrichtung., zum Surrealisme, ge-
rade von der Geheimweisheit des alten Goethe,
von seiner Urerscheinungslehre aus, überraschende
Brücken führen.

Ich will zunächst versuchen, von dieser Lrerschei-
nungslehre einen Begriff zu geben. In den Mate-
rialien zur Geschichte der Farbenlehre hat Goethe
einmal besonders klar Art und Bedeutung der Lr-
erscheinung bestimmt, und zwar so : er nicht
gewahr werden kann, daß ein Fall oft tausende wert
ist und sie alle einschließt, wer nicht das zu erfassen
und zu ehren imstande ist, was wir Urphänomen
genannt haben, der wird weder sich noch andern
jemals etwas zur Freude und zum Nutzen fördern
können". Die Urerscheinung soll ein Fall für tau-
sende sein. Ein glücklicher Fund aus ,,Eckermanns
Gesprächen mit Goethe"' wird zeigen, wie Goethe
bei Betrachtung eines Werkes der bildenden Kunst
die Urerscheinung sieht und herausarbeitet. Bei-
spiele sind immer eindeutiger als alle Theorie.
Hören wir, was Goethe seinem Famulus über Dela-
croix' „Faust und Mephisto" zu sagen hat.
Faust und Mephisto reiten auf dem gedachten Stich
sausend am Hochgericht vorbei, um Gretchen noch
rechtzeitig aus dem Kerker zu befreien. „Sie reiten
so schnell, daß Faust Mühe hat sich zu halten; die
stark entgegenwirkende Luft hat seine Mütze ent-
führt, die, von dem Sturmriemen am Halse gehal-
ten, weit hinter ihm fliegt." „Der überirdische Reiter
(Mephistoj sitzt leicht und nachlässig im Gespräch
zu Faust gewandt; das entgegenwirkende Element
der Luft ist für ihn nicht da, er wie sein Pferd
empfinden nichts, es wird ihnen kein Haar bewegt.
Da muß man doch gestehen, daß man es sich selbst
nicht so vollkommen gedacht hat."
Dazu wäre hier im voraus zu bemerken, daß Künst-
ler nicht Begriffe, sondern Ideen gestalten. Der
Begriff ist etwas Durchschnittsmäßiges, Konventio-
nelles: die Idee aber etwas Einmaliges, Schöpferi-
sches. Der Begriff zieht alles Besondere ab; die
Idee als Trieb- und Keimkraft erfüllt aber gerade
die sinnliche Erscheinung bis an die äußerste Ober-
fläche von innen mit flutendem Leben. Der Begriff
ist starr, tot, statisch; die Idee aber ist beweglich,
lebendig, dynamisch. Gestalten heißt, die Idee in
der sinnlichen Einzelerscheinung sichtbar machen.
Bei Delacroix' Stich handelt es sich um Gestaltung
der Idee des Mephisto, der ein höheres, ein Geister-
wesen ist. Faust und sein Pferd geben die Grundlage
für diese Gestaltung. Sie sind das Durchschnitts-

mäßige im Sinne des „Begriffs": natürliche Wir-
kung der Luft bei solcher sausenden Bewegung.
Mephisto und sein Pferd sind das schöpferisch Ein-
malige im Sinne der „Idee", indem sie das Erwar-
tete, Regelgemäße durchbrechen : die entgegenwir-
kende Luft hat keine Macht über sie. Zugleich ist
aber die Erscheinung Mephistos ..ein Fall für tau-
sende", d. h. eine Lrerscheinung: wenn bei dieser
rasenden Flucht der entsprechend starke Luftstrom
keine Gewalt hat über [Mephisto und sein Geister-
pferd, dann wird das erst recht nicht der Fall sein,
wenn die äußere Ursache, der entgegenwirkende
Luftstrom nämlich, kleiner ist: alle diese gewöhn-
lichen Fälle, „gemeine Phänomene"' nennt sie
Goethe sonst, sind in diesem „eminenten Fall", in
diesem äußersten Fall mitenthalten, wenn auch nur
keimartig. Entscheidend ist, daß die innere Keim-
und Triebkraft, die Idee selbst, auf diese Weise sicht-
bar wird. Daß Delacroix den Normalfall (Faust und
sein Pferd) der Gegensatzwirkung wegen mitdarge-
stellt hat, war nicht notwendig für den Eindruck:
aber mitgedacht wird dieser Normalfall immer,
weil er das zunächst Erwartete ist.
Nun möchte ich, um Zeit und Raum zu sparen, un-
vermittelt ein paar Analysen moderner Surrealisten-
bilder bringen. Es wird sich zeigen, daß sie genau
in der selben Weise geformt sind. Ich beginne füg-
lich mit dem Vater des Surrealisme, mit Henri
Rousseau. Es gibt von ihm ein Bild „Schlafende".
Situation: witternder Löwe mit glühenden Augen
im Y\ üstensand bei ^llmond vor einer Schlafen-
den in steif gefaltetem Gewand, einen Stab im Arm,
Laute und Krug neben sich. Das Durchschnitts-
mäßige, Natürliche, Erwartete in solcher Gefahr
wäre sinnlose Angst. Für die selig lächelnde Ruhe
der menschlichen Gestalt in diesem „äußersten Fall"
der Gefahr gibt es nur eine innere Ursache: die
Idee des Schlafes: sie ist sichtbar geworden.
Einer der Führer der jungen Pariser Surrealisten
ist der Rheinländer Max Ernst. Bezeichnend für ihn
ist etwa der Holzschnitt „Aufregung" aus der Folge
La femme cent tetes. Hier ist die Übereinstimmung
mit Delacroix' Stich zunächst vielleicht noch auffal-
lender, weil der Normalfall ebenfalls mit dargestellt
ist. Im Mittelgrund des Ernstschen Holzschnittes
sieht man nämlich in einem Raum einen Mann und
eine Frau in der größten „Aufregung" ; denn links im
Hintergrund schicken sich offenbar Räuber zu einem
Überfall an. Die Frau zerrauft sich die Kleider,
während der Mann eine Waffe bereit macht. Alles
das ist durchaus zu erwarten, ist natürlich und ent-
spricht dem Durchschnittsverhalten. Aber die beiden
sind nicht allein in dem Räume: im Vordergrund

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