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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 49.1933-1934

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Weiss, Konrad: Wege des deutschen Kunstsinnes zwischen Marées und Munch
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https://doi.org/10.11588/diglit.16481#0282

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Staatliche Museen

Edvard Münch. Drei Mädchen auf Brücke

nicht den typischen Menschen lebendig: aber der
Mensch im Augenblick seines Ereignisses oder im
Blute seines \ olkes und seiner Geschichte ist ihm
gegeben. Die Faxte braucht nicht mehr einer typi-
schen Menschform zu dienen in der Hypothese der
Zeitiosigkeit. sie ist mit dem Lichte gespalten, das
sich in der gestaltlichen Fraktur der Zeichnung
gleichsam gebrochen hat. Aber sie kann manchmal
wappenhaf te Farbklänge zu dieser nordischen Frak-
turempfindung des Lebens stellen.
Der Xordostdeutsche Levis Corinth hat sich
vielfach mit dem Mythologischen beschäftigt, aber
nicht in der kontemplativen Form, sondern um das
Blut des deutschen Daseins, das durch den Historis-
mus antiquarisch verfärbt war. neu zu beleben.
Corinth gehört mit dem Sinneswege seiner Kunst in
die Nähe Münchs. Wenn dem Künstler Münch, wie
gesagt, der Mensch im Blute seines Volkes und sei-
ner Geschichte gegeben ist. so gilt dies bei Münch
vor allem der großen Anlage nach: für Corinth
aber, den Sohn einer Nation, die den Krieg der Zeit
in Wirklichkeit zu tragen hatte, gilt es in Wirklich-
keit: es gilt bei ihm zugleich enger und größer. Co-
rinth hat dies sein geschichtliches Volksgefühl vor
allem auch mit den Motiven der christlichen Pas-

sion ausgedrückt. In seinem ,,Ecco liomo" oder in
seinen Kreuzigungsbildern ist in ihm etwas in-
stinkthaft Deutsches von der Spätgotik her ganz
und gar erhalten geblieben: ein Beispiel dafür, daß
der Deutsche, was er in der Anlage und noch mehr
durch die geschichtliche Kernentwicklung in sich
zur Auswirkung gebracht hat, nicht mehr verlieren
kann. Es kann durch lange Zeiträume eingeschlafen
erscheinen, bis es plötzlich mit einer ebenso wilden
wie reinen Ursprünglichkeit wieder herausbricht.
Blut und Sinn wachen dann auf mit der Fähig-
keit, gleichmäßig durch Mensch und Landschaft zu
kreisen. Die Kraft zum einen und zum andern,
zum Belebten und zu Leblosem ist dann die gleiche.
Es gibt dann sozusagen keinen geistigen Wert als
erstes, sondern nur dies rüttelnde Kraftmaß. das
die Erscheinung der Natur zersetzt, um sie in einem
innersten Ausdruck mit dem äußersten Glanz der
Schrift eines restlosen Tuns neu zu erringen.
Aber der geistige Wert ist dann eben jener, der die
Schöpfung in ein neues Bild umsetzt: und er zeigt
sich in der Erfüllung dieses rüttelnden Maßes. Es
ist die Passion an der Erde, die sich dann gerade
auch für den Protestanten an die Passion in der
christlichen Geschichte wenden muß, um ein geisti-

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