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Zweiter Abschnitt
arbeiten der Urrichtungen der Horizontale und Vertikale, die vor-
her nie so zum Sprechen kam. War das klare System von Hori-
zontalen und Vertikalen die Frucht des angestrengten Ringens
um räumliche und plastische Schönheit, so liegen schon hier bei
Ghirlandaio die Ansätze, dieses System durch Herausarbeiten der
elementaren Kontraste kompositionell zu nutzen. In wie bedeuten-
der Weise heben sich die Oberkörper der liegenden Wöchnerinnen
als ein Ragendes aus den auf den Stufen Kauernden heraus. Mit
welchem Nachdruck steht Johannes der Täufer predigend unter
den Sitzenden. Nicht nur mit unerhörter Klarheit, sondern auch
mit einem ganz neuen Gefühl für die Wirkung der Kontraste ist
— gemessen z. B. an Filippo Lippi — die Dienerin durchgegliedert,
die mit einer Fruchtschale auf dem Kopf hinter den Besuchenden
(Geburt des Johannes) (Abb. 50) ins Zimmer tritt.
Die Vorzüge und die Grenzen von Ghirlandaios Kunst lassen sich
an einer solchen Figur ablesen. Die Grenze ist: die Figur ist zwar
völlig auf den Kontur hin gesehen, aber der Kontur ist von einer
gewissen Trockenheit und Sprödigkeit. Und was von der Einzel-
figur gilt, gilt auch von dem das Bildganze durchwaltenden Rhythmus.
Ghirlandaios Stärke liegt in der zentralen Komposition ruhiger
Figurenmassen, und mit einer gewissen Gewandtheit weiß er durch
großgesehene Architektur dem Bild sonorenTon zu geben. Bei kompli-
zierteren und bewegteren Konfigurationen hat er Mühe, Form aus
Form zu entwickeln, den Rhythmus klingend zu machen.
Neben den großen Freskenzyklen hat Ghirlandaio eine Reihe von
Tafelbildern geschaffen. Entwicklungsgeschichtlich sind sie weniger
wichtig. Die Anbetung der Hirten ist noch kleinteilig und ver-
zettelt gesehen. Bunte antike Ruinen, Figuren sehr verschiedenen
Maßstabes lassen das Bild als typisch quattrocentistisch erscheinen.
Anklänge an Hugo van der Goes sind in den schlichten Köpfen
der Hirten unverkennbar. Die Monumentalität der Fresken erreicht
die Heimsuchung im Louvre, ein ganz spätes Bild (1491).
Hat Botticelli (1446—1510) nicht jene männliche Klarheit
der Gestaltung, so hat er dafür in hohem Maße den Sinn für die ge-
fühlte, für die rhythmisierte Linie. Die Sehform der Zeit ist die
lineare und Botticelli ist der Meister der feingefühlten, mit Aus-
druck geladenen Linie, wie keiner vor ihm. Botticelli ist der Schüler
Filippo Lippis, aber schon seine frühesten Bilder (Judith, Holo-
fernes) lassen erkennen, worin er sein Bestes geben zu können glaubte:
Zweiter Abschnitt
arbeiten der Urrichtungen der Horizontale und Vertikale, die vor-
her nie so zum Sprechen kam. War das klare System von Hori-
zontalen und Vertikalen die Frucht des angestrengten Ringens
um räumliche und plastische Schönheit, so liegen schon hier bei
Ghirlandaio die Ansätze, dieses System durch Herausarbeiten der
elementaren Kontraste kompositionell zu nutzen. In wie bedeuten-
der Weise heben sich die Oberkörper der liegenden Wöchnerinnen
als ein Ragendes aus den auf den Stufen Kauernden heraus. Mit
welchem Nachdruck steht Johannes der Täufer predigend unter
den Sitzenden. Nicht nur mit unerhörter Klarheit, sondern auch
mit einem ganz neuen Gefühl für die Wirkung der Kontraste ist
— gemessen z. B. an Filippo Lippi — die Dienerin durchgegliedert,
die mit einer Fruchtschale auf dem Kopf hinter den Besuchenden
(Geburt des Johannes) (Abb. 50) ins Zimmer tritt.
Die Vorzüge und die Grenzen von Ghirlandaios Kunst lassen sich
an einer solchen Figur ablesen. Die Grenze ist: die Figur ist zwar
völlig auf den Kontur hin gesehen, aber der Kontur ist von einer
gewissen Trockenheit und Sprödigkeit. Und was von der Einzel-
figur gilt, gilt auch von dem das Bildganze durchwaltenden Rhythmus.
Ghirlandaios Stärke liegt in der zentralen Komposition ruhiger
Figurenmassen, und mit einer gewissen Gewandtheit weiß er durch
großgesehene Architektur dem Bild sonorenTon zu geben. Bei kompli-
zierteren und bewegteren Konfigurationen hat er Mühe, Form aus
Form zu entwickeln, den Rhythmus klingend zu machen.
Neben den großen Freskenzyklen hat Ghirlandaio eine Reihe von
Tafelbildern geschaffen. Entwicklungsgeschichtlich sind sie weniger
wichtig. Die Anbetung der Hirten ist noch kleinteilig und ver-
zettelt gesehen. Bunte antike Ruinen, Figuren sehr verschiedenen
Maßstabes lassen das Bild als typisch quattrocentistisch erscheinen.
Anklänge an Hugo van der Goes sind in den schlichten Köpfen
der Hirten unverkennbar. Die Monumentalität der Fresken erreicht
die Heimsuchung im Louvre, ein ganz spätes Bild (1491).
Hat Botticelli (1446—1510) nicht jene männliche Klarheit
der Gestaltung, so hat er dafür in hohem Maße den Sinn für die ge-
fühlte, für die rhythmisierte Linie. Die Sehform der Zeit ist die
lineare und Botticelli ist der Meister der feingefühlten, mit Aus-
druck geladenen Linie, wie keiner vor ihm. Botticelli ist der Schüler
Filippo Lippis, aber schon seine frühesten Bilder (Judith, Holo-
fernes) lassen erkennen, worin er sein Bestes geben zu können glaubte: