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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 1.1902-1903

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Lichtwark, Alfred: Justus Brinckmann
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https://doi.org/10.11588/diglit.3547#0055

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die voraussetzungslose Unbefangenheit der
Anschauung und die Anwendung einer auf
anderem Gebiet erworbenen Methode, durch
deren Hebelkraft er den altangesessenen, in
der Ueberlieferung erstarrten Fachleuten über-
legen ist. Dazu kommt als bezwingendes
Machtmittel sein Gedächtnis, das in seiner
starken und ungebrochenen physischen Natur
wurzelt und, wo er innerlich teilnimmt, nicht
überlastet werden kann. Aber es ist nicht
sein Herr, sondern der gefügige Diener seiner
höheren Kräfte.

Seine ersten Herrscherthaten auf dem neuen
Gebiet werden dann selbst von seinen Freunden
mit Erstaunen und nicht ohne Misstrauen
aufgenommen, wie ihn überhaupt oh am
schwersten verstehen, die ihm die nächsten
sind. Denn seine Entwicklung scheint ihnen
notwendige Stufen übersprungen zu haben.
Weil die innere Wachstumsarbeit im Verbor-
genen vor sich gegangen ist, steht das Ergeb-
nis als etwas Unbegreifliches da und pflegt
mit der halb entrüsteten Frage begrüsst zu
werden: „Wo hat er das gelernt:" Dass über-
haupt und immer wieder so gefragt wird,
weist auf die Schwierigkeit hin, seine Art zu
begreifen. Er „lernt" überhaupt nicht, son-
dern bildet Kräfte aus. Man sollte für seine
Art, aufzunehmen, einen anderen Ausdruck
brauchen. Er kann gar nicht lernen durch
Aufspeicherung, wie die Gelehrtennatur der
unfruchtbaren Art, sondern nur durch Einver-
leibung, denn er nimmt den Stoff zu sich wie
eine nährende Speise und verwandelt ihn in
sein Fleisch und Blut.

Von anderen zu lernen, ehe er im Studium
der Dinge soweit vorgedrungen, wie ihn seine
eigenen Kräfte tragen, pflegt ihm schwer zu
fallen oder gar unmöglich zu sein. Hat er
sich eingelebt, so nimmt er die Ergebnisse
fremder Arbeit, soweit sie ihn zu nähren ge-
eignet ist, spielend in sich auf, und bei der
Berührung mit schaffenden Geistern springt

ihre Erkenntnis fast ohne Vermittlung des
Worts zu ihm über.

Unter Umständen wiederholen sich bei ihm
die raschen Wachstumserscheinungcn bis ins
höhere Alter. Während der Durchschnitt nach
erreichtem Körpermass auch geistig bald zu
wachsen aufhört, stehen bleibt und ver-
knöchert, hat er die Gabe dauernder Jugend-
lichkeit des Körpers und des Geistes und des
unbegrenzten inneren Wachstums. Mit sechzig
odersiebzigjahrenerscheint er frischer und auf-
gelegter als die Mehrzahl der Dreissigjährigcn.
Wird er jedoch durch äussere Mächte in
einen bereits akademisierten Beruf gezwängt,
so pflegt er, da seine innersten, ihm selbst
teuersten Kräfte nicht ins Spiel treten dürfen,
zu versagen, abzuspringen oder sich als Em-
pörer zu erheben. Denn er kann nur die
Pflichten erfüllen, die er in Freiheit gewählt
hat, und nur das Joch tragen, das er mit ei-
gener Hand auf seine Schultern gelegt hat.

Erst in seiner selbstcrkorcncn Thätigkeit
kann er Schöpfer werden, und er vermag
dann soviel Arbeit zu leisten, dass schon der
mechanische Teil das Mass dessen, was ein
Mensch auf Gehciss oder Verlangen auszu-
führen imstande ist, um das Vielfache über-
steigt.

Das neunzehnte Jahrhundert hat diesen Na-
turen, aus denen in vergangenen Zeitläuften
Condotticri, Conquistadorcn und Sektenstifter
wurden, endlose neue Entwicklungsmöglich-
keiten eröffnet. Sie konnten an Stelle der
Sekten politische Parteien gründen oder leiten,
neue Wissenschaft, neue Kunst schaffen, Ent-
decker, Erfinder oder Organisatoren der Arbeit
werden. Aber in so vielfacher Verkleidung
sie auftreten, im innersten Kern gehören sie
alle derselben Gattung der Trieb- und W'illens-
menschen an.

Auch bei der Gründung der Sammlungen

und Museen des neunzehnten Jahrhunderts

sind sie beteiligt.

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