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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 1.1902-1903

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Delacroix, Eugène: Aus dem Tagebuche, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3547#0261

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Man muss immer wieder auf die konventio-
nellen Mittel zurückkommen, die die Sprache
jeder Kunst sind. Was ist denn eine Zeichnung
in Schwarz und Weiss anders, als eine Kon-
vention, an die der Beschauer gewöhnt ist
und die seine Phantasie nicht hindert, in dieser
Uebersetzung der Natur ein vollständiges
Aequivalent zu sehen?

Ebenso verhält es sich mit dem Kupferstich.
Es gehört kein sehr scharfes Auge dazu, um
die Unmasse von Strichen zu sehen, deren
Kreuzung die Wirkung hervorbringt, die der
Kupferstecher erreichen will.

Es sind das mehr oder weniger sinnreich
verteilte Pinselstriche, die, bald weit ausein-
anderstehend, um das Papier durchscheinen
zu lassen und den Ton durchsichtiger zu
machen, bald dicht aneinander gerückt, um
ihn stumpfer und fester erscheinen zu lassen,
durch konventionelle, aber von dem Gefühl
erfundene und geheiligte Mittel und ohne der
Farbe zu bedürfen, alle Reichtümer der Natur
wiedergeben, nicht für den rein physischen
Sinn des Gesichtes, aber für die Augen des
Geistes und der Seele. Sie geben den frischen
Teint des jungen Mädchens, die Runzeln des
Greises, das Weiche der Stoffe, die Durch-
sichtigkeit des Wassers, die Weite des Himmels
und der Gebirge. Wenn man sich darauf be-
ruft, dass auf einigen Bildern der alten Meister
nichts von Pinselführung zu sehen ist, so darf
man nicht vergessen, dass die Zeit die Striche
abwäscht. Viele Maler, die den Pinselstrich
sorgfältig vermeiden unter dem Vorwande,
dass es in der Natur nichts derartiges giebt,
übertreiben den Kontur, der dort ebensowenig
vorhanden ist. Sie glauben auf diese Weise
eine Bestimmtheit zu erreichen, die aber nur
auf die ungeübten Sinne der Halbkenner
wirkt. Sie unterlassen es sogar dank diesem
groben illusionsfeindlichen Mittel, das Relief
gehörig auszudrücken; denn dieser gleichmässig
starke Kontur hebt die Modellierung auf, in-
dem er die Partieen, die bei jedem Gegenstand
dem Auge am fernsten sind, nämlich die Kon-
turen, nach vorn bringt.

Die übertriebene Bewunderung der alten
Fresken hat viel zu dieser Neigung, den Kon-

tur zu utrieren, beigetragen. Bei dieser Technik
ist die Notwendigkeit, den Kontur mit grösster
Bestimmtheit zu ziehen, durch die materielle
Ausführung vorgeschrieben; übrigens muss
man in dieser Technik, wie in der Glasmalerei,
wo die Mittel noch konventioneller sind,
in grossen Zügen malen. Der Maler sucht
nicht sowohl durch die Wirkung der Farbe,
als durch die grosse Anordnung der Linien
und ihre Harmonie mit denen der Architektur
zu bestechen.

Die Plastik hat ihre Konvention wie die
Malerei und der Kupferstich. Man fühlt sich
durchaus nicht durch die Kälte gestört, die
scheinbar aus der einförmigen Farbe des ver-
wendeten Materials, sei es Marmor, Holz, Stein,
Elfenbein u. s. w. resultieren muss. Das Fehlen
der Färbung bei den Augen, den Haaren, ist
kein Hindernis für die Art Ausdruck, die diese
Kunst gestattet. Die Isolierung der runden
Figuren ohne Beziehung zu irgend einem
Hintergrunde, und die noch viel grössere Kon-
vention der Basreliefs schaden ebensowenig.
Ja sogar auch die Plastik gestattet den Strich
sehen zu lassen; die Uebertreibung gewisser
Höhlungen oder ihre Verteilung trägt zur
Wirkung bei, wie z. B. die Löcher, die man
statt einer fortlaufenden Linie mit dem Bohrer
in gewisse Partieen der Haare oder des Bei-
werks bohrt, und die auf eine gewisse Distanz
ihre zu grosse Härte mildern und einen Schein
von Leichtigkeit geben, namentlich in den
Haaren, deren Wellenformen man durch genaue
Nachbildung nicht wiedergeben kann.

In der Art, wie die Ornamente in der
Architektur behandelt werden, findet man den
Grad von Leichtigkeit und Illusion wieder,
den der Strich hervorbringen kann. In der
Manier der Modernen sind diese Ornamente
genau gleichartig angefertigt, so dass sie, aus
der Nähe gesehen, von tadelloser Korrektheit
sind. In der richtigen Entfernung wirken sie
dann kalt, oder überhaupt gar nicht. In der
Antike dagegen muss man die Kühnheit und
zugleich das Gefühl für Wirkung in diesen
Kunstleistungen bewundern, diesen wirklichen
Strich, der die Form im Sinne der Wirkung
übertreibt, oder die Roheit gewisser Konturen

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