Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 1.1902-1903

DOI Artikel:
Delacroix, Eugène: Aus dem Tagebuche, [2]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3547#0327

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
von diesem Anblick nicht losreissen. Es ist nete Linien; es ist da wie zum Staat, und

ein Riesenfortschritt darin und doch lernte scheint keinen Zweck zu haben. Zu der

ich dadurch sein „Begräbnis" bewundern. Wirkung, die ich verlange, müssen Farbe und

Hier in diesem sind die Personen alle aufein- Form zusammenwirken. Meine Genauigkeit

ander, die Komposition ist nicht recht ver- würde im Gegenteil darin bestehen, nur die

standen; es ist Luft darin und bemerkenswert Hauptobjekte, diese aber in ihrer Beziehung

gemalte Partieen: die Hüften, der Schenkel zu den Personen anzugeben. Was ich übrigens

des nackten Modells und seine Brust; die Frau hier von der Marinemalerei verlange, will ich

im Vordergrund, die einen Shawl trägt; der auch bei jedem andern Sujet. Das Beiwerk ist

einzige Fehler ist, dass das Bild, das er malt, zu gleichgültig behandelt, selbst bei den

Amphibiologie treibt, es sieht aus, als ob grüssten Meistern. Wenn man an die Figuren

mitten im Bilde ein wirklicher Himmel wäre. Sorgfalt verwendet, und ihre Umgebung ver-

Man hat da eins der merkwürdigsten Werke nachlässigt, so erinnert man meinen Geist an

unserer Zeit rerüsiert; aber das ist ein Kerl, das Handwerk, an die Ungeduld der Hand,

der sich durch solche Kleinigkeiten nicht ent- oder an eine gewisse Fertigkeit, bloss durch

mutigen lässt. ungefähre Andeutung das zu geben, was die

& Wahrheit der Figuren vervollständigt, die

Waffen, die Stoffe, die Hintergründe, die

Dieppe. Ich verbringe ganze Stunden ohne Terrains . . .
Lektüre, ohne Zeitungen. Ich gehe die Zeich- &

nungen durch, die ich mitgebracht habe, ich

betrachte mit Leidenschaft und unermüdlich Es giebt Leute, die von Natur Geschmack
diese Photographieen nach nackten Menschen, besitzen, bei diesen wird er mit dem Alter
dieses wundervolle Gedicht, diesen mensch- stärker und reiner. Der junge Mensch ist für das
liehen Körper, auf dem ich lesen lerne, und Bizarre, für das Gezwungene, das Schwülstige,
dessen Anblick mir mehr sagt, als die Erfin- Man nenne nur nicht etwa Kälte, was ich Mel-
dungen der Vielschreiber. Geschmack nenne. Dieser Geschmack, den

Hier, wo ich in jedem Augenblicke diese ich meine, ist eine Klarheit des Geistes, die

Meeresscenen, diese Schiffe, diese interessanten im Augenblick das, was der Bewunderung

Menschen sehe, werde ich noch mehr, als im würdig ist, von dem scheidet, was nur glän-

vorigen Jahre, der Ansicht, dass man dem zende Fälschung ist. Mit einem Wort, es ist

allem nicht das richtige Interesse abgewonnen die Reife des Geistes.

habe. Das Schiff spielt nicht die gehörige Rolle Bei Tizian beginnt diese Breite der Mache,
bei der Marinemalerei; ich würde aus ihnen die mit der Trockenheit seiner Vorgänger
die Helden der Scene machen; ich schwärme bricht und die Vollendung der Malerei be-
für sie; sie geben mir einen Begriff von Kraft, deutet. Die Maler, die auf diese primitive
von Anmut, von Pittoreskem; je mehr sie in Trockenheit aus sind, die den Schulen, die
Unordnung sind, desto schöner finde ich sie. sich versuchenund aus fast barbarischen Quellen
Die Marinemaler geben sie vollständig gleich- hervorgehen, ganz natürlich ist, sind wie er-
gültig wieder. Wenn sie die Proportionen wachsene Menschen, die, um sich ein naives
beachtet, die Stellung des Takelwerks den Ansehen zu geben, die Sprechweise und die
Prinzipien des Segeins angemessen gezeichnet Bewegungen der Kinder nachahmen möchten,
haben, so halten sie ihre Aufgabe für gelöst; Die Breite Tizians, welche das Endziel der
den Rest machen sie mit geschlossenen Augen, Malerei ist, ist ebenso entfernt von der Trocken-
wie die Architekten auf einem Plane ihre heit der ersten Maler, wie von dem ungeheuer-
Säulen und Hauptornamente angeben. Ich liehen Missbrauch des Pinselstrichs und der
verlange die Richtigkeit für die Phantasie; ihr schlenkrigen Malerei der Maler aus der Ver-
Tauwerk sind hastig und mechanisch gezeich- fallzeit der Kunst. So ist die Antike. —

3I8
 
Annotationen