Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 2.1904

DOI Artikel:
Veth, Jan: Eine deutsche Madonna
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3550#0352

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
LUCAS CRANACH, COMPOSITION

EINE DEUTSCHE MADONNA

VON

JAN'VETH

O oft ich im berliner Museum die
Treppen, welche zu den Bildersälen
führen, halb heraufgekommen bin,
lenke ich meine Schritte noch eben
in die Abteilung der deutsch-christ-
lichen Skulptur, um dort den Raum
aufzusuchen, wo die bemalte Holzstatue einer
schwäbischen Madonna, aus dem Ende des fünf-
zehnten Jahrhunderts, mich mitten unter so vielen
Schätzen immer wieder wohlthuend bewegt.

Ich weiss es wohl: sie sind mit festerem Schön-
heitssinn geformt und aus verlockenderer Kunst
geboren: die schönen Wesen von Donatello und
Luca della Robbia, von Rosso und Agostino di
Duccio, von Antonio Rossellino und Desiderio da
Settignano, von Mino do Fiesole und Benedetto
da Majano, und allen diesen Bildhauern mit den
lieblich klingenden Namen, deren Werke dasselbe
Museum in feiner Wahl so urteilssicher zu geniessen
giebt. Doch stellen sich — in höchster Instanz —
alle diese italienischen Madonnen mit ihrem betäu-

benden Reiz nicht dennoch ein wenig zur Schau,
scheinen sie nicht selbst noch ein wenig schmachtend
nach dieser höheren Herrlichkeit, welche sie ver-
körpern wollen, und wohnte nicht in der Tiefe
des deutschen Gemüts eine Frommheit, welche eher
als die in all ihrer Pracht vielleicht doch wohl etwas
kühl-klassisch angehauchte Kultur der italienischen
Renaissance geweiht war, aller sinnlichen Schönheit
bar sich dem Unendlichen zu nähern?

Gekerbt aus einem deutschen Lindenbaum, in
dessen treuherzigen Zweigen einst deutsche Nach-
tigallen sangen, steht die von mir gesuchte Mater
Misericordiae gerade aufrecht, ohne Krone, ohne
Nimbus, nur mit einem Schleier um das lange blonde
Haar, aber mit einem von den schlanken Schultern
weit herabhängendem Mantel, den sie mit einer un-
vergleichlich lieben Gebärde ausbreitet, um darunter,
wie eine ihre Kücken treu beschirmende Henne, eine
Anzahl schüchterner Frommen sicher zu beherbergen.

35*
 
Annotationen