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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 3.1905

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Aus der Correspondenz Vincent van Goghs, [7]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4389#0133
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AUS DER CORRESPONDENZ
VINCENT VAN GOGHS

Antwerpen 85.

Mehrere Male schon bin ich auf den Docks und
Deichen spazieren gegangen. Besonders wenn man
aus dem Sand, der Heide und der Stille eines Bauern-
dorfes kommt und lange Zeit nur in einer stillen
Umgebung war, wirkt der Kontrast eigenartig. Es
ist ein unergründlicher Wirrwarr.

Eins der Goncourts'schen Sprüchworte lautete:
„Japonaiserie for ever." Nun, die Docks sind eine
famose Japonaiserie, seltsam, eigenartig, ungeheuer-
lich — man kann sie wenigstens so sehen.

Die Gestalten sind stets in Bewegung. Man
sieht sie in der sonderbarsten Umgebung, alles un-
geheuerlich, in den verschiedensten, interessantesten
Gegenüberstellungen.

Durch das Fenster eines sehr eleganten, englischen
Restaurants blickt man auf den schmutzigsten
Schlamm und auf ein Schiff, aus dem von mon-
strösen Typen von Packträgern und ausländischen
Matrosen Felle und BüfFelhörner ausgeladen
werden. Daneben vor dem Fenster steht ein sehr
schwarzes, sehr feines, verschüchtertes Mädchen.
Das Interieur mit der Gestalt, ganz Ton und Licht,
die silberartige Luft über dem Schlamm und den
BüfFelhürnern — überall Kontraste, die besonders
krass wirken.

Vlämische Matrosen mit übertrieben gesunden
Gesichtern und breiten Schultern, kräftig und stark,
und durch und durch antwerpensch, — stehen da,
essen Muscheln und trinken Bier dazu, und das ge-
schieht mit viel Geschrei und Bewegung. Auf der
andern Seite: eine kleine Gestalt in Schwarz, die
Hände auf den Hüften, kommt unhörbar an den
grauen Mauern entlang geschlichen. In einem

(FORTSETZUNG)

Rahmen von kohlschwarzem Haar ein kleines
Gesichtchen, braun, orangegelb? Ich weiss es
nicht.

Eben schlägt sie die Augen auf und wirft einen
scheuen Blick aus einem Paar kohlschwarzer Augen.
Es ist ein chinesisches Mädchen, geheimnisvoll, still
wie eine Maus, klein, wanzenartig von Charakter.
Ein Kontrast zu den grossen vlämischen Muschel-
essern . . .

Gott sei Dank ist mein Magen wieder soweit
hergestellt, dass ich drei Wochen lang von Schiffs-
zwieback, Milch und Eiern leben konnte. Die
wohlthätige Hitze giebt mir meine Kräfte wieder
und es war gescheut von mir, jetzt nach dem Süden
zu gehen, wo das Uebel noch zu heilen war. Ich
bin jetzt so gesund wie andere Leute, was ich bis-
her nur sehr selten, z. B. in Nuenen, von mir sagen
konnte. Das ist schon recht erfreulich (unter den
anderen Leuten verstehe ich die streikenden Erd-
arbeiter, den alten Tagny, den alten Millet und
die Bauern).

Wer gesund ist, muss von einem Stück Brot
leben und dabei den ganzen Tag arbeiten können.
Auch eine Pfeife Tabak und einen gehörigen
Schluck muss er vertragen, denn ohne das gehts
nun mal nicht. Und dann noch Empfindung haben
für die Sterne und den unendlichen Himmel. Dann
ist es schon eine Wonne zu leben! —

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