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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 4.1906

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Denis, Maurice: Aristide Maillol, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4390#0485

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Phantasie entfaltet. Er braucht absolute Freiheit, um
nach seinem sicheren Instinkt zu erfinden und die
Materie zu gestalten. Aber auch im Meistern der
Überfülle seiner Gaben, in der Art, wie er unter
tausend verschiedenen Elementen diejenigen wählt,
die am geeignetsten sind, ihn zu befriedigen, fühlt er
ganz wie die Klassiker das Bedürfnis eines Zwangs.
Dieser Nachkomme der Aegypter, der Griechen und
des herrlichen Pradier schreibt sich selbst fest-
gelegte Proportionen, feste Satzungen vor: nach
seinen gewöhnlichen Modellen hat er die Maasse prä-
zisiert, die ihm gefallen, und einen idealen Typus
geschaffen, dem er nach Möglichkeit alles unterwirft.

Ich habe beobachtet, dass er sich, indem er mög-
lichst systematisch kugel- und cylinderähnliche
Formen verwendet, den Rat von Ingres zu verwirk-
lichen bemüht: „das die Beine wie Säulen sein
müssen". — Und er verwendet die vom Meister
bezeichneten Mittel: „Um die Schönheit der Form
zu erreichen, muss man rund und ohne innere
Details modellieren. Denn „schöne Form ist gerade
Flächen mit Rundungen". — Und Ingres fügte
hinzu: „Warum schafft man nicht grossen Stil?
weil man statt einer grossen Form drei kleine
macht." Eine glänzende Formel, welche die ganze
Kunst und Methode Maillols umfasst!

V. Der Sinn für das Reale.

So haben wir nun untersucht, welche Quali-
täten er für sein Schaffen mitbringt, und mit
welcher Beherrschung er eine ganz konkrete und
ganz mit Realismus genährte Phantasie beherrscht.
— Denn solche Kunst wäre in der That akade-
misch, wenn die Liebe zum Realismus nicht überall
darunter hervorblühen würde. Aus seinen voll-
endetsten Synthesen ist es leicht, seine Begeisterung
für die Natur herauszufühlen. Dieser grosse Klassiker
hat eine ganz kindliche Empfindung. Jedes noch
so vertraute Schauspiel in der Natur sieht er jedes-
mal wieder mit entzückten Augen und einem
frischen Herzen. Die ganze Aussenwek liebt er
leidenschaftlich. Giebt er nun wirklich dem was
er sieht den Vorzug vor dem, was er erfindet?

Eine offene Frage. Jedenfalls hat er die Gabe der
Frische in einem unerhörten Grade. Ich habe ihn
in Extase geraten sehen über einen Kieselstein, über
ein Stückchen Erde, über den Glanz eines Metalls.
Seine Zärtlichkeit ist unermesslich, er ist für den
Zauber jeder Sache empfänglich.

Wenn seine künstlerische Neugierde so uni-
versell ist, wenn er sich so warm mit dem anzu-
wendenden Material, mit der Patina, beschäftigt,
wenn er gern neue Mischungen zum Modellieren
erfindet, wenn er bei seinen Spaziergängen auf dem
Lande Pflanzen sammelt, um ihren Saft zu Farb-
stoffen auszupressen, so kommt das daher, dass
nichts in der Natur ihn gleichgültig lässt. Er ist
eben mit allen Sinnen der geborene Realist.

VI. Maillol's Sinnlichkeit.

Dies ist auch das Geheimnis seiner sexuellen,
mehr griechischen als christlichen Sinnlichkeit, in
der seine Kunst sich gefällt. Ein voller Rücken,
strotzende Schenkel, runde Schultern, die Weich-
heit des Leibes, straffe Brüste — bei all diesen
Reizen des weiblichen Körpers verweilt zärtlich
sein Meissel. Die Antike, die nicht die Frauen
liebte, hat uns wenige so verführerische Figuren
hinterlassen. Keine Romantik, keine Litteratur
kompliziert ihm die jugendliche Vision dieser

schönen, zur Liebe bereiten Körper, ohne Scham
und ohne Leidenschaft, Geschöpfe der feinsten und
köstlichsten Bestialität, kräftig gebaute und gesunde
Musen, deren lässige Stellungen sie der Mutter Erde
nähern, oder die manchmal ohne Bewegung im
Glanz ihrer Nacktheit dastehen; Architekturen des
Fleisches, die kalt wären ohne jenes Erzittern der
Haut, ohne jene Unbestimmtheit der Geste^ ohne
die Zärtlichkeit, die ihnen die wundervolle Schüch-
ternheit Maillol's einhaucht. (schluss folgt)

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