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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 6.1908

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Heft 12
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Muthesius, Hermann: Die Architektur auf den Ausstellungen in Darmstadt, München und Wien
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■—I

in den unsere gesamte europäische Architektur-
ausübung verfallen war, konnten sogleich von
dem Mutterboden der Architektur aus in die Be-
wegung eingreifen, in den sich sonst die Maler und
Kunstgewerbler erst mühsam einwurzeln mussten.
Einen entscheidenden Einfluss übte auf die Gruppe
die schottische Innenkunst Mackintoshs aus. Von
dem Augenblick dieser Einwirkung ab bildete sich
rasch jene klare architektonische Disposition heraus,
die heute die Eigenart der Wiener ausmacht. Sie
arbeitet mit den einfachsten Grundformen, aber
gewährt der höchsten Geschmacksentfaltung Raum.
Das künstlerische Streben dieser Gruppe ist ganz
universell und erstreckt sich auf alle sichtbaren
menschlichen Äusserungen, immer jedoch von der
Architektur ausgehend. Das beweisen vor allem die
Wiener Werkstätten, ein den mannigfachen deut-
schen „Werkstätten" ähnliches Unternehmen, das
den bedeutendsten Beitrag zur „Kunstschau" ge-
liefert hat. Nicht nur dass sie alles, was zur
Wohnungsausstattung gehurt (wie Möbel,Teppiche,
Stoffe, farbiges Glas, Beschläge, Beleuchtungskörper
usw.), hervorbringen, sondern sie betreiben auch die
Buchkunst, die Edelmetallarbeit, den Plakatentwurf,
den Hausbau, die Gartenkunst und die Kunst des
Theaters. In allen ihren Äusserungen sind sie schöpfe-
risch. Was die technische Vorzüglichkeit ihrer Arbeit
anbetrifft, so stehen sie vielleicht heute in den
deutschsprechenden Ländern überhaupt an erster
Stelle. Die künstlerischen Leiter Hoffmann und
Moser widmen ihre gesamte Arbeitskraft, soweit
diese nicht von ihrer Lehrthätigkeit an der Wiener
Kunstgewerbeschule in Anspruch genommen wird,
den Wiener Werkstätten. Es ist kaum möglich, ge-
schmackvollere Räume zu sehen als die Verkaufs-
und Arbeitsräume der Wiener Werkstätten, und
diese Räume, deren Zauber an sich jeden auf-
nahmefähigen Besucher gefangen nimmt, sind mit
den kostbarsten Dingen angefüllt, die man sich
denken kann. Es ist eine Märchenwelt, in die man
aus der trivialen Alltäglichkeit hineinzutreten glaubt.
Der Geist der Wiener Werkstätten wiederholt
sich im grossen in der Wiener „Kunstschau". Es ist
dieselbe Formensprache, dasselbe Farbenempfinden,
dieselbe Eleganz, die uns dort entgegentreten. Auf
den ersten Blick sollte man meinen, dass die ganze

Ausstellung von Hoffmann und Moser gemacht sei.
Es stellt sich aber heraus, dass beide Künstler zwar
sehr viel dazu beigetragen haben, dass aber den
grossen Anteil an der Ausstellung ein Heer jüngerer
Kräfte hat, die aus der Hoffmannschen Schule her-
vorgegangen sind. Man erkennt mit Erstaunen,
dass hier schon eine lokale Tradition entstanden ist,
die als etwas Fertiges vor unsern Augen steht, und es
wird wieder einmal sonnenklar, dass auch die Stil-
wandlungen der Zeit im letzten Ende von Persön-
lichkeiten ausgehen, dass das Zeitalter nichts weiter
zu dem Kulturgemälde liefert als den Malgrund.
Diese Wiener moderne Kunst ist vielleicht das Ein-
heitlichste und Vollkommenste, was unsere Zeit bis-
her hervorgebracht hat. Heiter, elegant,graziös,sorg-
los, lebensfreudig, diskret und unaggressiv wie das
Wiener Leben, aber doch ein künstlerisches Höhen-
niveau einhaltend, das von keiner anderen örtlichen
Tradition erreicht wird. Mit den architektonischen
Kräften im Verein wirkt der merkwürdige Maler
Klimtmit seiner fürs erste so fremdartig anmutenden,
traumhaft dekorativen Note. Hier wie in München
lässt sich beobachten, dass, wenn nur wirklich eine
führende architektonische Kunst vorhanden ist, auch
die Malerei und die Plastik wieder jenen architek-
tonischen Grundzug annehmen, den diese Künste
in allen Zeiten architektonischer Blüte hatten.

Freilich sind wir von dieser architektonischen
Blüte heute noch weit entfernt. Es kann nicht
davon die Rede sein, dass der heutige Stand der
Architektur irgendwie erlaubte, unser künstlerisches
Zeitalter als ein architektonisches anzusehen, aber
die Morgenröte einer besseren Zeit steigt doch her-
auf. Die neue Architektur wird sich nicht aus der
routinierten Berufsausübung jener Architekten ent-
wickeln, die ihr Stilwahn in einer bequemen Ge-
fangenschaft hält. Sie kann nur entstehen aus dem
aufrichtigen Bestreben heraus, dem architekto-
nischen Problem auf der Grundlage gerecht zu
werden, die in dem ursprünglichen rhythmischen
Instinkt des Menschen gegeben ist. Den Versuch er-
blicken wir in der neuen Bewegung der letzten
zehn Jahre. Es ist ein Versuch und muss als solcher
betrachtet werden. Die drei diesjährigen Aus-
stellungen geben immerhin der Hoffnung neue Nah-
rung, dass er vielleicht gelingt.

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