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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 7.1909

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Heft 9
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Walser, Robert: Über das russische Ballet
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https://doi.org/10.11588/diglit.4599#0430

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so etwas. Item, wir sehen dann die Balkonpracht
herunterrutschen, und nun beginnt sie Süsse und
Grösse zu tanzen. „Ja, das ist noch ein Tanz",
so sprach mich jemand, der sehr begeistert ge-
wesen ist, in der Pause an, „ach ja", sagte ich, und
es gefiel mir, Trockenheit zu heucheln. „Kolossal"
sagte ein zweiter. Ich musste lachen. O dieses
Berlin, wenn es in Begeisterung gerät. Ich bin
natürlich der tiefgefühlten Überzeugung, dass es
sehr nett, sehr hübsch ist, sich zu begeistern. Das
Neue begeistert. Und die Russen und Russinnen
muteten uns wie etwas ganz Neues, Niegesehenes
an. Ihren traditionellen Tanz haben wir als etwas
Kühnes, Einziges und Neues empfunden. Uns
blendete eine Kunst, die die Reifen und Ge-
scheiten unter uns begraben glaubten.

Ist dieser Tanz Zukunft? Es müssten für einen
Tanz, der über einen stürmischen Erfolg hinüber
leben soll, Stücke geschrieben werden, die der Zeit
und dem Zeitgeist entsprechen. Im übrigen braucht
man ja die Tanzkunst nicht zu verstehen. Man
braucht nicht zu wissen, was eine holdselige
Hand- und Armbewegung bedeutet. Nur zu
fühlen, zu sehen braucht man es, und daher ist
der Gedanke an eine Zunkunft des uns über-
lieferten Tanzes ziemlich philiströs. Doch es ist
oft nicht so unklug, ein bisschen zu philistern.

Ganz wundervoll, und direkt beglückend, sind
die Einzeltänze dieser Leute aus dem Zarenreich,
die Volks- und Nationaltänze. Schon allein die
Kostüme. Und dann diese schöne, durch Zucht
und Takt geadelte Wildheit. Das ist hinreissend,
und hier muss die Edouardowa genannt werden.
Sie vertritt das Sinnlich-Schöne, die Pawlowa das
Geistig-Bezaubernde.

Es hat sich deutlich gezeigt, dass dieses uner-
hört, dieses gewaltig- moderne Berlin kein Ballet-
Publikum mehr besitzt. Der Anblick eines Ballets
muss eigentlich ganz kühl, jedenfalls sehr, sehr
Weltdamen-und weltmannenhaft genossen werden:
flüchtig, nobel, kalt, elegant und gemessen, so in
der Mitternacht, zwischen geistreichem Geplauder
und der befeuernden Weinflasche. Es ist ja kein
Ibsensches Stück, keine Oper von Wagner, die da
gegeben wird. Da wir hier in Berlin „so etwas"

lange, lange nicht mehr erlebt haben; also nicht mehr
gewöhnt sind, es als reine feine Vergnügung zu
empfinden, haben wir's als etwas Beklemmung Er-
regendes und daher, wie ich glaube sagen zu dürfen,
als etwas beinahe zu, zu Bedeutungsvolles emp-
funden. Nun, man soll nicht philistern. Aber
tiefsinnig war es, zu bemerken, wie wir in Glut
kamen angesichts der Anmutentfaltung. Lechzen
wir so nach Anmut? Es scheint.

Das Schöne hat uns wieder einmal überrumpelt.
So recht überrumpelt. Und die Verächter gingen
hin, um die Gegenstände jahrzehntelangen Über-
drusses beseligt, berauscht anzubeten. Es ist dies
ein Zeichen der Zeit, in der wir leben: höchstes
Schwanken jedenfalls in Dem, was man den guten
Ton, das Verständnis für Kunst, was man Ge-
schmack nennt. Uns wirbelt es, und wir werden ge-
wirbelt! Dass wir noch fähig sind, Freude und
und inniges Entzücken zu empfinden, es so plötz-
lich zu empfinden, das kann uns mit einiger Genug-
thuung erfüllen. Wir lärmen nur so! Aber
vielleicht ist das notwendig. Und auch das muss
man aussprechen: zu danken hat man den
Leuten, die auf die Idee gekommen sind, diese
tanzbegabten Russen einzuladen, ihr Glück noch-
mals in der Reichshauptstadt zu probieren. Denn
voriges Jahr haben wir ja die edle Pawlowa, sowie
die ganze übrige Künstlerschar so gut wie abge-
lehnt, jedenfalls mit dem Frost halbpatziger An-
erkennung überworfen.

Zu versuchen, alles dies ein wenig zu betonen,
erschien mir geziemend. Sagen, wie schön sie
tanzt, die grosse Künstlerin Anna Pawlowa, das
kann ich nicht. Sie begeistert den Dichter zu Ge-
dichten, den Maler zu malerischen Entwürfen, den
Musiker zu neuen musikalischen Einbildungen.
Sie ist so zart wie kühn, so gross wie bescheiden,
so schön wie bedeutend. Ah, ihr Lächeln, ihre
herrlich-ausgreifenden Schritte. Und das Wunder
ihrer Arme und Beine. Schauen wir auf den Balkon.
Da sitzt sie und wirft Gesten, die einer Märchen-
königin ziemen, in die Augen und Herzen hinunter,
die sie liebend bewundern. Gleicht sie nicht einer ver-
führerischen Zauberin, die uns vergaukelt, das Süsse
und Edle könne nie ganz aussterben in der Welt?

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