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zu sein scheinen." Wen er eigentlich mit „den
Andern" meinte, ist nicht ganz ersichtlich, vielleicht
Polyklet. Aber im übrigen hat er nicht Recht da-
mit, dass er sich als den Erfinder des Illussionismus
in der Plastik bezeichnet. Das fünfte Jahrhundert
schon hatte es nicht nur mit der „Daseinsform" zu
thun, sondern wesentlich mit der Wirkungsform.
Der Einwand, die vorklassische Kunst habe die
Wirklichkeit nicht darstellen können, ist angesichts
eines solchen Ephebenkopfes hinfällig — die Da-
seinsform war für sie Rohmaterial. Was die Grie-
chen sich an „Falschheiten" gefallen Hessen, wenn
sie der Monumentalwirkung zugute kamen, geht
über alle modernen Begriffe, und die Übertreibungen
in der Darstellung im Sinne der Illusion sind durch-
aus die Regel, keine Ausnahme. Bei grossdekorativen
Werken wie den Giebelfiguren aus dem Zeustempel
in Olympia (Abbildung im nächsten Heft) ist dies
natürlich besonders auffällig; aber Figuren zu ma-
chen, die, wenn sie plötzlich aufstehen würden,
Krücken haben müssten,um sich nur aufrecht halten
zu können — dies zeugt doch von einem Kunst-
wollen, das die „Richtigkeit" an sich äusserst gering
einschätzte. Wohl sind diese Giebelskulpturen im
direkten Zusammenhang mit der Malerei des Poly-
gnot entstanden, und, als Werke des dekorativen Stils,
nicht als reine Rundfiguren gedacht. Aber das Male-
rische daran bezieht sich doch nur auf die Gesamt-
komposition, jede Einzelfigur ist vollkommen pla-
stisch durchempfunden und selbst eine so unmögliche
Gestalt noch wie die des Kauernden aus dem Ost-
giebel (Abbildung im nächsten Heft) ist gefüllt mit
plastischem Leben. Das Dekorative ist nie kunst-
gewerblich Stilspielerei in diesen Werken; eine Kunst,
die noch eine Metopie wie die vom himmeltragen-
den Herakles (Abbildung im nächsten Heft) mit die-
sem Übermaass von sprühendem brausendem Leben
füllt, hat auch nicht die leiseste Anwandlung von
kunstgewerblicher Schwäche gespürt. Wenn man
dann vollends ein unvergleichliches Meisterwerk
dieser Epoche, den delphischen Wagenlenker (Ab-
bildung im nächsten Heft) betrachtet, und nur allein
den Kopf nimmt, diesen prachtvoll geschwungenen
Schädel mit den grossen klaren Flächen, und der
ornamentalen Behandlung von Einzelheiten (das
stilisierte Auge, das zu kleine Ohr, das fein behan-
delte und geordnete Haar), dann erstaunt man über
das Gleichgewicht, in dem lebendigste Empfindung
und hoher Stil hier geben. Den zwingendsten Aus-
druck frischesten Lebens im Verein mit dieser Ruhe
der Darstellung findet man in keiner andren Epoche
wieder. (Fortsetzung folgt)
EPHEBENKOPF. AKROPOLISMUSEUM IN ATHEN
PHOTOGK. PAPAIANNOPULOS
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zu sein scheinen." Wen er eigentlich mit „den
Andern" meinte, ist nicht ganz ersichtlich, vielleicht
Polyklet. Aber im übrigen hat er nicht Recht da-
mit, dass er sich als den Erfinder des Illussionismus
in der Plastik bezeichnet. Das fünfte Jahrhundert
schon hatte es nicht nur mit der „Daseinsform" zu
thun, sondern wesentlich mit der Wirkungsform.
Der Einwand, die vorklassische Kunst habe die
Wirklichkeit nicht darstellen können, ist angesichts
eines solchen Ephebenkopfes hinfällig — die Da-
seinsform war für sie Rohmaterial. Was die Grie-
chen sich an „Falschheiten" gefallen Hessen, wenn
sie der Monumentalwirkung zugute kamen, geht
über alle modernen Begriffe, und die Übertreibungen
in der Darstellung im Sinne der Illusion sind durch-
aus die Regel, keine Ausnahme. Bei grossdekorativen
Werken wie den Giebelfiguren aus dem Zeustempel
in Olympia (Abbildung im nächsten Heft) ist dies
natürlich besonders auffällig; aber Figuren zu ma-
chen, die, wenn sie plötzlich aufstehen würden,
Krücken haben müssten,um sich nur aufrecht halten
zu können — dies zeugt doch von einem Kunst-
wollen, das die „Richtigkeit" an sich äusserst gering
einschätzte. Wohl sind diese Giebelskulpturen im
direkten Zusammenhang mit der Malerei des Poly-
gnot entstanden, und, als Werke des dekorativen Stils,
nicht als reine Rundfiguren gedacht. Aber das Male-
rische daran bezieht sich doch nur auf die Gesamt-
komposition, jede Einzelfigur ist vollkommen pla-
stisch durchempfunden und selbst eine so unmögliche
Gestalt noch wie die des Kauernden aus dem Ost-
giebel (Abbildung im nächsten Heft) ist gefüllt mit
plastischem Leben. Das Dekorative ist nie kunst-
gewerblich Stilspielerei in diesen Werken; eine Kunst,
die noch eine Metopie wie die vom himmeltragen-
den Herakles (Abbildung im nächsten Heft) mit die-
sem Übermaass von sprühendem brausendem Leben
füllt, hat auch nicht die leiseste Anwandlung von
kunstgewerblicher Schwäche gespürt. Wenn man
dann vollends ein unvergleichliches Meisterwerk
dieser Epoche, den delphischen Wagenlenker (Ab-
bildung im nächsten Heft) betrachtet, und nur allein
den Kopf nimmt, diesen prachtvoll geschwungenen
Schädel mit den grossen klaren Flächen, und der
ornamentalen Behandlung von Einzelheiten (das
stilisierte Auge, das zu kleine Ohr, das fein behan-
delte und geordnete Haar), dann erstaunt man über
das Gleichgewicht, in dem lebendigste Empfindung
und hoher Stil hier geben. Den zwingendsten Aus-
druck frischesten Lebens im Verein mit dieser Ruhe
der Darstellung findet man in keiner andren Epoche
wieder. (Fortsetzung folgt)
EPHEBENKOPF. AKROPOLISMUSEUM IN ATHEN
PHOTOGK. PAPAIANNOPULOS
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