Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 10.1912

DOI Heft:
Heft 8
DOI Artikel:
Töpfer, Rudolf; Schur, Ernst: Essai de Physiognomonie
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4707#0420

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Man kann in Kapiteln, in Zeilen, in Worten Geschichten schreiben: das ist Literatur im eigentlichen
Sinne. Man kann auch in einer Folge graphischer Darstellungen Geschichten erzählen: das ist
Literatur in Bildern. Man kann auch keins von beiden tun, und das ist manchmal das beste.

„Geschichten in Bildern zu schreiben" heisst nicht nur nach einem gegebenen Vorwurf arbeiten und
alles darin Enthaltene bis zur Neige ausschöpfen. Es heisst nicht einen an sich witzigen Stift in den
Dienst eines grotesken Einfalls stellen. Es heisst auch nicht ein Sprüchwort oder einen Witz illustrieren:
es bedeutet die vollständige Erfindung eines Vorgangs, dessen einzelne Teile in der Zeichnung neben-
einander gestellt werden, die in sich ein Ganzes bilden; es bedeutet, ein Werk geschaffen haben, sei es
nun gut oder schlecht, schwer oder leicht, toll oder ernst — nicht aber einen Witz oder eine Posse.

Ein Beweis dafür, dass nicht immer ein grosser Sack voll Gelehrsamkeit und Begabung nötig
ist, um Geschichten in Bildern zu verfassen, ist der, dass wir selbst daraufgekommen sind; denn ohne
zeichnerisches Können zu besitzen und ohne etwas anderes geben zu wollen als in ganz primitiver Weise
zu unserm eigenen Vergnügen eine Art Wirklichkeit aus den närrischsten Einfällen unserer Laune her-
aus zu schaffen, sind eine Art kleiner Bücher daraus entstanden, wie Mr. Jabot, Mr. Crepin, Mr. Soundso,
die ein geneigtes Publikum, so wie sie sind, sehr freundlich aufgenommen hat. Wenn diese kleinen
Bücher, von denen nur wenige herrschende Missstände oder Auswüchse angreifen oder verspotten,
lieber nützlich moralische Ideen ins rechte Licht gesetzt hätten, würden sie dann nicht ganz gewiss viele
Leser angezogen haben, die solche Ideen nicht in den Predigten hören wollen und in Romanen kaum an-
treffen? Wie dem auch sei — als wir diese kleinen Bücher zeichneten, ohne wirklich zeichnen zu können,
und dabei die Darstellung der Personen, die darin vorkommen, bis ins Absurde übertrieben in bezug auf
Gestalt und Gesichtszüge, ohne darum das, was sie ausdrücken sollen, nicht so gut wie möglich auszudrücken,
ist uns der Gedanke gekommen einige physiognomische Beobachtungen zu sammeln, nicht etwa um hier-
auf ein grosses System aufzubauen, sondern wieder, um ein kleines Buch daraus zu machen."

Ein Vorteil des graphischen Striches ist, dass er in den Zügen, die man andeuten will, vollständig
freie Wahl lässt, eine Freiheit, die eine ausführendere Schilderung nicht mehr erlaubt. Wenn ich in einem
Kopf das stumpfsinnige Entsetzen (Nr. i), die schlechte und empfindliche Laune, die Betroffenheit, die

zu gleicher Zeit alberne und zudringliche Neugier darstellen will (Nr 2. 3. 4.), beschränke ich mich in
den graphischen Strichen, die diese Gemütsbewegungen ausdrücken, indem ich sie von allem Andern
trenne, das in einer vollständigeren Darstellung sich ihm beigesellen würde. Darum können ungeschickte
Leute Gefühle und Leidenschaften ziemlich gut andeuten, weil es ihrer Schwäche dient, bloss ein Ding
auf einmal darzustellen und durch ein Mittel, das, je mehr es von allen andern getrennt ist, desto stärker
wirkt. Merken Sie sich das wohl! Das unerfahrenste Auge ersetzt alle Lücken in der Darstellung mit
einer Leichtigkeit und besonders einer Wahrheit, die dem Zeichner zum Vorteil gereichen.

Hier sind einige Köpfe, hier ist ein Herr und eine Dame, die im höchsten Grade abgebrochene
Striche und ziemlich ungeheuere Unterbrechungen in dem Umriss bieten; für den Beschauer sind sie
ebensoviel leere Stellen, welche sein Geist gewöhnlich ohne Mühe und treu besetzt, ausfüllt und voll-

L02
 
Annotationen