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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 11.1913

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Heft 9
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Fischer, Otto: Eine Landschaftsrolle des Sesshu
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https://doi.org/10.11588/diglit.4713#0473

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EINE LANDSCHAFTSROLLE DES SESSHU

VON

OTTO FISCHER

Die ostasiatische Kunst besitzt eine Form des
Bildes, die uns Europäern fremd und bis heute
noch so gut wie unbekannt ist. Es ist die Bildrolle.
Während das Rollbild, das japanische Kakemono,
das wir kennen, eigentlich nur eine Weise der
Montierung und Aufbewahrung eines Bildes be-
deutet, das in eine bestimmte und begrenzte Fläche
komponiert und mit einem Blick zu überschauen
ist, setzt dagegen die Bildrolle eine andere Art des
Gestaltens ebensosehr voraus, wie sie eine andere
Art der Betrachtung vom Beschauer verlangt. Hier
erfüllt das Bild die endlose Länge eines horizontalen
Streifens und es wird angeschaut, indem die Rolle
auf den Fussboden gelegt und von Dienern zu beiden
Seiten langsam ab- und wieder aufgewickelt wird.
Das Bild also wird niemals als ein Ganzes in einen
Blick gefasst, sondern es zieht unaufhörlich vor dem
Betrachtenden vorüber, es entwickelt sich vor seinen
Augen vom einen Ende zum andern, wie vor dem
Fenster im fahrenden Eilzug der mannigfache
Wechsel einer Landschaft sich abzurollen scheint.
Es nähert sich demnach die Komposition der eines
architektonischen Frieses, der ebenfalls eine succes-
sive, doch freilich entlangschreitende Betrachtung

Anm. d. Red.: Da sich die Rolle von rechts nach links
abwickelt, stehen die Teile hier in umgekehrter Reihenfolge,
zwischen den Teilen, die auf Seite 465 abgebildet sind, fehlt
ein Stück der Rolle.

verlangt, mit dem wesentlichen Unterschied, dass
es sich hier um ein schmückendes und monumen-
tales Werk handeln würde, dort jedoch die reinste
Form einer ganz und gar intimen Kunst schon in
der Aufgabe gegeben ist. Diese Werke stehen auf-
bewahrt wie die Schriftrollen in der Bibliothek, sie
werden angeschaut nur wenn der Besitzer sie zu
sehen oder Freunden zu zeigen wünscht, sie suchen
nicht den Geniessenden, sondern sie wollen von
ihm aufgesucht sein und sie verlangen eine unge-
störte Hingabe der Betrachtung. Dann aber ist
hier die Form eines anschaulichen und zugleich in
der Zeit sich entwickelnden Kunstwerks verwirk-
licht, wie wir Europäer es eigentlich nur im Spiel
der Bühne kennen. Aus dieser Darstellungsform
ist zum grossen Teil die ostasiatische Malerei heraus-
gewachsen, an ihr hat sie Jahrhunderte durch vor-
züglich sich entwickelt und es lässt sich nachweisen,
dass speziell die Landschaftsmalerei in ihr entstanden
und gross geworden ist.

Die Landschaftsrolle des Sesshu, die im Besitz
des Fürsten Mori sich befindet, ist wohl das vor-
züglichste Beispiel eines wirklich bedeutenden Werks
dieser Gattung, das in Europa, sei es auch nur in
einer originalgetreuen Wiedergabe, zugänglich ist.
Sesshu ist unter den japanischen Meistern vielleicht der
grösste. Er hat in der zweiten Hälfte des fünfzehnten

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