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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

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Heft 2
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Worringer, Wilhelm: Die Kathedrale in Reims
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https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0104

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tum an Widersprüchen ist, liegt so viel Spannen-
des und soviel Endlosigkeit, dass immer wieder
der Blick, nach Entspannung suchend, sich bei
der schonen Endlichkeit der französichen Form
erholt und beruhigt. Dieser niemals ruhende
deutsche Entspannungsdrang hat uns zuerst zur
griechischen Klassizität geführt, dann zur italieni-
schen, bis er schliesslich den Weg gefunden hat zu
der uns nächstliegenden und zeitlich am engsten
verwandten französischen Klassizität. Mag die ita-
lienische Kunst noch so sehr bewundert werden, es
ist immer ein leiser Zusatz von Bildungsdisziplin
in dieser Bewunderung; unsere Bewunderung der
französischen Kunst ist dagegen ein von aller Bil-
dungssuggestion und aller historischen Romantik
befreites natürliches Produkt unseres inneren Er-
gänzungsinstinkts, und noch so entsetzliche Kriegs-
jahre, noch so widerwärtige französische Verleum-
dungscampagnen werden uns — das hoffen wir
von ganzem Herzen — nicht dazu bringen, uns an
diesem für unsere kulturelle Gesundheit unentbehr-
lichen nationalen Ergänzungsinstinkt zu versündigen.
Denn ein Erstarren in nationaler Einseitigkeit, das
kann nie und nimmer mehr das Ziel dieses Krieges
sein, aus dem einfachen Grunde, weil es undeutsch
wäre. Wir werden niemals vergessen, was mit
diesem Krieg gegen unsere materielle und mora-
lische Existenz Frankreich uns angethan hat, wir
werden aber auch niemals vergessen, was es uns
viele Jahrhunderte hindurch künstlerisch gegeben
hat. Wollten wir es vergessen, so wären wir in
Wahrheit die Barbaren, als die uns der gedanken-
lose und selbstzerstörerische französische Chauvi-
nismus hinstellt.

Und so grüssen wir denn auch heute noch,
über all die Entsetzlichkeit und Sinnlosigkeit dieses
Krieges hinweg, in alter Bewunderung das formale
Genie der französischen Rasse, wie es uns so glän-
zend in eben jener Kathedrale entgegentritt, die
nach französischem Ratschluss zum Stein werden
sollte, an dem unser moralischer Ruf vor dem
Gerichtshof der europäischen und aussereuropäi-
schen Öffentlichkeit zerschellen sollte. Wir grüssen
sie mit derselben Bewunderung, mit der jene deut-
schen Bauleute und Steinmetzen sie vor sieben Jahr-
hunderten grüssten, die dann pietätvoll bis in das
innerste Deutschland die Erinnerung an ihre be-
glückenden Reimser Eindrücke trugen. Wir wissen
heute, dank der intensiven Arbeit unserer Forscher,
dass wir fast kein Blatt der Geschichte deutscher
Kunst in jenen entscheidenden Jahrhunderten auf-

schlagen können, ohne dass uns breit im Text oder
in einer Seitenanmerkung neben dem noch wichti-
geren Chartres der Name Reims entgegentritt. Es
wiederholt sich hier nur in einem Einzelfall, was
längst als das Schicksal der spätmittelalterlichen
deutschen Kunst erkannt worden ist: immer kamen
die entscheidenden Stichworte vom Westen, immer
fand die französische Formbegabung zuerst die
prägnante und überzeugende Formulierung für das,
was dem östlichen Europa gleichsam noch unarti-
kuliert auf den Lippen schwebte. Dass gerade Reims
in der Geschichte dieser französisch-deutschen Be-
ziehungen eine so grosse Rolle spielt, liegt, so para-
dox es klingt, daran, dass gerade Reims so typisch
französisch in seiner Kunst ist und deshalb die Über-
redungskraft der französischen Kunstsprache in
einer fast unwiderstehlichen Art entwickelt. Wir
wissen, dass die grossen französischen Kathedralen
des dreizehnten Jahrhunderts trotz der Gemeinsamkeit
des Systems ganz festumrissene und voneinander ver-
schiedene Individualitäten sind; nun, das Französi-
sche mit seinen guten und schlechten Seiten wird
wohl von keiner so erschöpfend repräsentiert wie
von der Reimser. Man braucht nur die verschie-
denen Fassaden zu vergleichen, um das zu spüren.
Braucht nur an die ernste klassische Gebundenheit
und sehnige Straffheit von Notre-Dame in Paris zu
denken, oder an die gedrungene, allzu muskulöse
Kraftentfaltung und Massivität der Laoner Fassade,
oder an Amiens mit seiner durch zu starkes anfäng-
liches Pedaltreten gehemmten und verwirrten Rhyth-
mik, um das restlos-Bestechende der Reimser
Lösung unmittelbar zu empfinden. In einer uner-
hörten Festlichkeit steigt dieses fast überreich
instrumentierte und glänzend rhythmisierte Triumph-
lied einer von aller Erdenschwere befreiten elastisch-
eleganten Gotik gen Himmel an und drängt im
ersten Augenblick sogar die Erinnerung an die stille
herrliche Epik von Notre-Dame zurück. Dass dieses
architektonische Bravourstück mehr überredet als
überzeugt, dass hier die männlich herbe rhetorische
Grösse der frühen Gotik schon fast allzu sehr zu
einer von Esprit sprühenden Causerie aufgelockert
ist, dass die grosse monumentale Tradition hier
schon allzu merkbar rein dekorativen Wirkungs-
schichten aufgeopfert ist, dass sich in der spielenden
Leichtigkeit der architektonischen und dekorativen
Mache schon leise der Geist der Routine anmeldet,
ja dass schon allerhand Rokokotendenzen verräte-
risch aufsprühen, das alles gehört ja nur als beson-
ders bezeichnend zu der beinahe demonstrativen

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