Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

DOI Heft:
Heft 3
DOI Artikel:
Beckmann, Max: Feldpostbriefe aus Ostpreussen: mit zehn Zeichnungen
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0147

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext


4^?, A

VON DEN KÜSSEN EINGESCHOSSENES HAUS

kommen. Ich habe bis jetzt noch kein Lebenszeichen
von Dir erhalten, aber hier ist ja jetzt wieder alles
gesperrt für Truppentransporte nach Österreich. Mög-
lich, dass Du nichts von mir weisst.

Eben bin ich in der Feste B. gewesen, etwas, das
für eine Zivilperson sonst sehr schwer ist. Es ist ein
wildes und merkwürdiges Leben, was ich heute führe,
nirgends ist mir der unsagbare Widersinn des
Lebens deutlicher geworden.

den zS. Sept. ipij-.

Heute musste ich meinen
Wohnungswechselvollziehen. Die
Tochter von meinem netten alten
Schulmeister ist nämlich ver-
rückt. Und nun hat sie sich in
den Kopf gesetzt, dass ich aus
der Wohnung müsste. Sie ist eine
ganz unheimliche Existenz. Ganz
dürr und lang mit schwarzen
unruhigen Augen und merk-
würdigabgehackten Bewegungen.
Wie auf Stelzen lief sie in meinem
Zimmer umher — ich müsste
hinaus, denn das müsste ich
doch einsehen, dass ich hinaus-
müsste! —

Na es war eine ganz reiz-
volle Abwechselung nach dem
Lazarett. Ich bekam es schliess-
lich mit der Angst, da die Wahn-
sinnige in unangenehm vertrau-
licher Art immer mit einem
Messer spielte und mein Zimmer

SCHLAFENDER SOLDAT

nicht zu verschliessen war und zog zu Superintendents,
die mich schon lange eingeladen hatten. Das sind
reizende Menschen, scheinbar wirkliche Christen, voller
selbstloser Güte und kindlicher Frömmigkeit. Noch
wie aus Jean Paul.

Sie wohnen in ihrem zerschossenen und ram-
ponierten Heim mit Seelenruhe. In den Schränken
stecken noch die Gewehrkugeln. Draussen haust der
Wind in den alten Tannen und
oben im Schloss hören die armen
Zerschossenen sein Lied. Schlafen
können sie wohl nicht viel und
tausend Fliegen quälen sie, so dass
man ihnen Tannenzweige über
das Gesicht legen musste.

M., den 3. Okt. 1914.

Es ist doch wirklich grotesk.
Heute Sonntag ist Dein Brief
noch nicht da, den Du mir
Freitag telegraphisch gemeldet
hast. — Leider habe ich diese
Zeit scheussliches Wetter gehabt
und eine leichte Angina. Sie
ist aber vorüber und mein
Lebenswillen ist augenblicklich
stärker als je, trotzdem ich schon
furchtbare Sachen miterlebt habe
und selbst schon einigemale mit
gestorben bin. Aber je öfter man
stirbt, um so intensiver lebt man.
Ich habe gezeichnet, das sichert
einen gegen Tod und Gefahr.

Heute morgen war ich mit

130
 
Annotationen