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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

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Heft 4
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Heymel, Alfred Walter: Der Tag von Charleroi
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https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0181

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zu solchen Zivilisten gehörigen Frauen in ein wildes
Weinen ausbrachen, eine Rothaarige, Fanatische
warf sich auf das Strassenpflaster, bekam Schrei-
krämpfe, andere drohten, die hageren Arme in die
Luft gereckt, hinter uns her, obwohl man sie alle
des öfteren versicherte, dass ihren Ernährern und
Söhnen, Freunden und Liebhabern nichts geschehen
würde, solange man uns nichts thäte. Alle diese viel-
sagenden Szenen spielten sich in Nebenstrassen ab.

So ritten wir wohl noch etwa zehn Minuten
vorwärts, die Strasse war ganz menschenleer, alle
Häuser waren fest verrammelt, Balken lagen vor
den Thüren, die Läden waren alle herunter, nichts
war zu hören, nichts zu sehen. Da kam von hinten
der Adjutant zu uns vor und brachte irgendeinen
Auftrag. In dem Augenblick sagte ich: „Nun ist's
doch nur noch eine Frage von Minuten, dass die
Schufterei anfängt."

Das war genau in dem Augenblick, als mein
Freund an der Spitze einen der Zivilisten fragte, als
er in einiger Entfernung vor sich einen dunklen
Strich über die Strasse gezogen sah: „EineBarrikade?"
„O, nein, die Eisenbahn," war die Antwort, und in
demselben Augenblick krachte auch schon eine
regelrechte Infanteriesalve von der Barrikade vor
uns durch die enge Strasse uns entgegen.

Ich sah zwei bis drei Reiter der Spitze sofort sich
überschlagen, auch die Geiseln mit am Boden
rollen, meinen Freund neben seinem Pferd stehen.
Ein rasendes Schnellfeuer folgte abwechselnd mit
Salven, wir konnten nirgends heraus; natürlich
machten wir sofort kehrt, und so ging es, ein

wildes Gehetze, über das holprige Strassenflaster,
im Rücken die sausenden Kugeln, die Richtung
zurück, von wo wir gekommen waren. Pferd auf
Pferd brach zusammen.

f Doch da geht die leibhaftige Hölle erst recht
los, das Feuer verstärkt sich, die Kugeln kommen
nicht allein aus den Häusern, auch von rechts und
links, aus Kellerluken, Fenstern, Dächern, und schon
liegen dreissig bis vierzig Pferde, und viele Reiter
durcheinander. So versuchten die Schurken von
rechts und links ihre Angelhaken nach unserem
zuckenden Leben auszuwerfen, während sie von
hinten unaufhörlich bemüht waren, gleichsam mit
Kugelnetzen unseren vorwärtszappelnden Haufen
zu Boden zu reissen.

Ich sehe links, wie auch der Adjutant neben
seinem Pferd steht, da fühle ich von hinten in das
Pferd einen Stoss nach vorn dringen. „Meiner
Seel", denk ich, „verwundet, gleich liegen auch wir,
Fensterziele für Schrotbüchsen, aber Dank dem
Herrn" — und im Galopp geht es weiter, bald auf
der Strasse, bald auf dem Trottoir ■— und nun,
liebe Freunde, ich sehe es euren Gesichtern an,
was ihr fragen wollt, denn ihr möchtet gar zu gern
wissen, was man in solchen Augenblicken denkt
oder fühlt.

Ich will versuchen, in meinem Gedächtnis
nachzuforschen, was ich so etwa gedacht haben
mag. Zuerst: „Diese Hunde, dass man sich von
ihnen erschiessen lassen muss, ohne was dagegen
thun zu können", dann: „zurück, aufgepasst, dass
man nicht über ein liegendes Pferd stolpert", und

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