Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

DOI Heft:
Heft 6
DOI Artikel:
Behrendt, Walter Curt: Der nordische Geist in der französischen Architektur
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0270

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
ein imponierendes Denkmal monumentaler Bauge-
sinnung und architektonischer Ausdrucksfähigkeit.
Und als letztes in der Reihe der vom Zufall gebo-
tenen Beispiele steht die Hafenbefestigung von La
Rochclle, einer kleinen Stadt am Atlantischen Ozean,
die im Mittelalter eine hohe Blüte ihres Handels
erlebte. Auch hier wird man die gleichen starken
Eigenschaften nordischer Bauempfindung wieder-
finden. Die beiden gewaltigen Türme, die die
Hafeneinfahrt flankieren, stellen in ihrer heutigen
Gestalt nur noch die bescheidenen Reste der ehemals
mit grossen Mitteln ausgeführten Kriegsgebäude
dar. Einst waren beide, die viereckige, von klei-
nen Rundtürmen begleitete Tour de la Chaine
und die runde Tour St. Nicolas, durch eine die
Einfahrt versperrende Kette untereinander verbunden.
Ein hoher Brückenbogen, unter dem die Schiffe
in den Hafen einliefen und der einen mit Zinnen
bewehrten Verbindungsgang trug, wölbte sich von
einem Turmkopf zum andern, Raum und Deckung
bietend für die Aufstellung von Verteidigungsmann-
schaften. Die Tour de la Chaine stand ihrerseits
durch eine Kurtine noch mit einem dritten Turm
in Verbindung, der dem Hafen als Leuchtturm
diente und dessen steinerne, gotisch durchbrochene
Spitze noch erhalten ist (Aufnahme in den „Archi-
ve* de laCommission des Monuments historiques").
Das energische Streben nach Charakteristik,
das Betonen und Herausarbeiten des architektoni-
schen Funktionsausdruckes, die naive, allem Kon-
ventionellen abholde und aus eigener ursprüng-
licher Empfindung schöpfende Gestaltungsweise,
die die hervorstechendsten Merkmale dieser franzö-
sischen Profanbauten bilden, lassen unzweifelhaft
die zeugende Kraft nordischen Kunstgeistes erken-
nen, der hier, zum erstenmal in seiner jugendlichen
Entwicklung, sich voll und frei entfaltet. Wo
immer sich das Verlangen nach reicher ausdrucks-
voller Silhouettenwirkung, die Freude an stark
gruppiertem Rhythmus der Massen und ein naives,
unmittelbares Lebensgefühl in der Behandlung der
Bauaufgaben kundgiebt, da darf man sicher sein,
dass der Stammbevölkerung germanisches Blut in
grossen Mengen beigemischt ist. Nicht allzu lange
hat freilich diese fast unumschränkte Vorherrschaft
nordischer Baugesinnung in Frankreich gedauert.
Die Renaissance hat ihr ein vorschnelles Ende be-
reitet und ihr kräftiges Gewächs auf dem fremden,
okkupierten Boden bis zu den Wurzeln zerstört. In
dem heiteren Kunstideal der Renaissance fand das
eingeborene gallische Rassenelement des französi-

schen Volkes die ihm natürliche, die blutsverwandte
Tradition wieder. Hier war, im Gegensatz zu der
ungebändigten, Mass und Ziel übersteigenden und
oft fast karikierend übertreibenden Ausdrucksweise
der eingewanderten Barbaren, Klarheit, Ruhe und
jene, die „gaiete gauloise" befriedigende Harmonie
zu finden, die für die südliche Sinnlichkeit den In-
begriff aller künstlerischen Vollkommenheit bildet
und die, seit die Renaissance den schützenden Wall
der Alpen überflutet hat, auch die deutsche Kunst
immer wieder in ihren gefährlichen Bann gelockt
hat. Seit der Wiederbelebung der Antike im sech-
zehnten Jahrhundert hat sich die französische Kunst,
sehr zum Schaden ihrer Entwicklung, völlig unter die
Herrschaft der strengen italienischen Schönheit be-
geben. Seitdem steht auch die Baukunst Frankreichs
im Zeichen eines zwar grossartigen und mit Geist
und Grazie geübten Klassizismus, der aber mit all
seiner formalen Vollendungund cbenmässigen Schön-
heit, mit seinen schwungvollen Gesten und mit dem
edlen Pathos seiner glänzenden Dekorationsmanier
doch über die Leere und Armut seines Ausdrucks
nicht hinwegzutäuschen vermag. Louvre und Tuil-
lerien, Versailles und Trianon, Invalidendom und
St. Madelaine, Pantheon und Grosse Oper, das sind,
bis auf die jüngste Zeit, die grossen Etappen in
dem glänzenden Siegeslauf dieses viel bewunderten
und als vorbildlich verehrten französischen Klassi-
zismus. Sein System und seine Proportionsgesetze
sind, nach dem Beispiel der Ecole des Beaux-Arts,
zum eisernen Bestand in der Lehrmittelsammlung
aller Architekturhochschulen und Akademien ge-
worden und seinem universal anwendbaren Deko-
rationsprinzip huldigt heute nicht nur die Baukunst
Frankreichs und mit ihm Europas, sondern die der
ganzen gesitteten Welt.

In Deutschland freilich ist die elementare
Lebenskraft der nationalen Kunstempfindung, trotz
des übermächtigen und stetigen Einflusses des
Renaissanceideals, nie ganz ausgestorben. Immer
wieder ist hier von Zeit zu Zeit die Tendenz zum
charakteristischen, leidenschaftlich bewegten Aus-
druck in neuen, eigenartigen Formgebilden durch-
gebrochen. So zeigt die Architektur des deutschen
Barockstils ein erneutes lebhaftes Aufflackern des
nordischen Kunstgeistes, und so darf man vielleicht
auch in der deutschen Baukunst der Gegenwart von
ganz vereinzelten Ansätzen einer wieder in solchem
Sinne triebhaft bildenden Kunst sprechen. Vor-
läufig wird diese ursprüngliche, im eingeborenen
Volkstum wurzelnde Kunstgesinnung noch von der

146
 
Annotationen