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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

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Heft 7
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Schiller, Friedrich; Scheffler, Karl: Die Realisten und die Idealisten: (über naive und sentimentalische Dichtung)
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https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0328

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um den Stamm gethan ist, wenn die Wurzeln
fehlen.

Wenn in einem System etwas ausgelassen ist,
wonach doch ein dringendes und nicht zu umgehen-
des Bedürfnis in der Natur sich vorfindet, so ist die
Natur nur durch eine Inkonsequenz gegen das System
zu befriedigen. Einer solchen Inkonsequenz machen
auch hier beide Teile sich schuldig, und sie beweist,
wenn es bis jetzt noch zweifelhaft geblieben sein
könnte, zugleich die Einseitigkeit beider Systeme
und den reichen Gehalt der menschlichen Natur.
Von dem Idealisten brauch ich es nicht erst ins-
besondere darzuthun, dass er notwendig aus seinem
System treten muss, sobald er eine bestimmte Wir-
kung bezweckt; denn alles bestimmte Dasein steht
unter zeitlichen Bedingungen und erfolgt nach empi-
rischen Gesetzen. In Rücksicht auf den Realisten
hingegen könnte es zweifelhafter scheinen, ob er
nicht auch schon innerhalb seines Systems allen not-
wendigen Forderungen der Menschheit Genüge
leisten kann. Wenn man den Realisten fragt: warum
thust du, was recht ist, und leidest, was notwendig
ist? so wird er im Geist seines Systems darauf
antworten: weil es die Natur so mit sich bringt,
weil es so sein muss. Aber damit ist die Frage noch
keineswegs beantwortet, denn es ist nicht davon die
Rede, was die Natur mit sich bringt, sondern was
der Mensch will, denn er kann ja auch nicht wollen,
was sein muss. Man kann ihn also wieder
fragen: warum willst du denn, was sein muss?
Warum unterwirft sich dein freier Wille dieser
Naturnotwendigkeit, da er sich ihr ebensogut
(wenngleich ohne Erfolg, von dem hier auch gar
nicht die Rede ist) entgegensetzen könnte und sich
in Millionen deiner Brüder derselben wirklich
entgegensetzt? Du kannst nicht sagen, weil alle
anderen Naturwesen sich derselben unterwerfen,
denn du allein hast einen Willen, ja du fühlst, dass
deine Unterwerfung eine freiwillige sein soll. Du
unterwirfst dich also, wenn es freiwillig geschieht,
nicht der Naturnotwendigkeit selbst, sondern der
Idee derselben; denn jene zwingt dich bloss blind,
wie sie den Wurm zwingt, deinem Willen aber kann
sie nichts anhaben, da du, selbst von ihr zermalmt,
einen andern Willen haben kannst. Woher bringst
du aber jene Idee der Notwendigkeit? aus der
Erfahrung doch wohl nicht, die dir nur einzelne
Naturwirkungen, aber keine Natur (als Ganzes) und
nur einzelne Wirklichkeiten, aber keine Notwendig-
keit liefert. Du gehst also über die Natur hinaus
und bestimmst dich idealistisch, sooft du entweder

moralisch handeln oder nur nicht blind leiden willst.
Es ist also offenbar, dass der Realist würdiger handelt,
als er seiner Theorie nach zugiebt, sowie der Idealist
erhabener denkt, als er handelt. Ohne es sich selbst
zu gestehen, beweist jener durch die ganze Haltung
seines Lebens die Selbständigkeit, dieser durch
einzelne Handlungen die Bedürftigkeit der mensch-
lichen Natur.

Einem aufmerksamen und parteilosen Leser
werde ich nach der hier gegebenen Schilderung
(deren Wahrheit auch derjenige eingestehen kann,
der das Resultat nicht annimmt) nicht erst zu be-
weisen brauchen, dass das Ideal menschlicher Natur
unter beide verteilt, von keinem aber völlig erreicht
ist. Erfahrung und Vernunft haben beide ihre eigenen
Gerechtsame, und keine kann in das Gebiet der
andern einen Eingriff thun, ohne entweder für den
innern oder äussern Zustand des Menschen schlimme
Folgen anzurichten. Die Erfahrung allein kann uns
lehren, was unter gewissen Bedingungen ist, was
unter bestimmten Voraussetzungen erfolgt, was
zu bestimmten Zwecken geschehen muss. Die Ver-
nunft allein kann uns hingegen lehren, was ohne
alle Bedingung gilt und was notwendig sein muss.
Massen wir uns nun an, mit unserer blossen Ver-
nunft über das äussre Dasein der Dinge etwas aus-
machen zu wollen, so treiben wir bloss ein leeres
Spiel, und das Resultat wird auf nichts hinauslaufen;
denn alles Dasein steht unter Bedingungen, und die
Vernunft bestimmt unbedingt. Lassen wir aber ein
zufälliges Ereignis über dasjenige entscheiden, was
schon der blosse Begriff unsers eigenen Seins mit
sich bringt, so machen wir uns selber zu einem
leeren Spiele des Zufalls, und unsre Persönlichkeit
wird auf nichts hinauslaufen. In dem ersten Fall
ist es also um den Wert (den zeitlichen Gehalt)
unsers Lebens, in dem zweiten um die Würde (den
moralischen Gehalt) unsers Lebens gethan.

Zwar haben wir in der bisherigen Schilderung
dem Realisten einen moralischen Wert und dem
Idealisten einen Erfahrungsgehalt zugestanden, aber
bloss insofern beide nicht ganz konsequent verfahren
und die Natur in ihnen mächtiger wirkt als das
System. Obgleichaberbeidedemldeal vollkommener
Menschheit nicht ganz entsprechen, so ist zwischen
beiden doch der wichtige Unterschied, dass der
Realist zwar dem Vernunftbegriff der Menschheit
in keinem einzelnen Falle Genüge leistet, dafür aber
dem VerstandesbegrifFderselben auch niemals wider-
spricht, der Idealist hingegen zwar in einzelnen
Fällen dem höchsten Begriff der Menschheit näher-

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