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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

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Heft 7
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Kristeller, Paul: Martin Schongauers Kupferstiche
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https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0362

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Gemälden, trotz ihrer diskreten Farbenreize, deutlich
wahrnehmbar. Seine Vorliebe für den mageren Bau der
Körper mag wohl zum Teil aus dem Einfluss Rogers ab-
zuleiten sein, sie ist aber sicher auch begründet in seinem
Streben, den Bau und den Bewegungsmechanismus der
Körper sich und anderen klar zu machen, das Natur-
bild auf möglichst einfache und bezeichnende Linien-
verbindungen zurückzuführen. Die bewunderungswür-
dige Ausdrucksfälligkeit seiner Linie, die das Bild der
scharfsichtig beobachteten Naturform mit der grössten
Treffsicherheit wiedergiebt, stellt Schongauer in die
Reihe der grossen Künstler und genügte, seinen Werken
hohe Wertschätzung zu sichern.

So muss er, wie Dürer, nicht nur aus praktischen
Erwägungen, sondern aus innerer Neigung, vom Instinkt
seines Talentes geleitet, sich mit besonderer Vorliebe
und mit geduldigem Eifer der Kupferstechkunst zuge-
wandt haben. Seine Zeichenkunst konnte sich hier in
gewissermassen monumentaler Form bethätigen; das
enge Feld der sauberen Kupferplatte bot ihm auch die
beste Möglichkeit, seiner echt künstlerischen Neigung
zur eingehendsten, feinsten Stoffdarstellung voll Genüge
zu thun.

Wer sich in das Studium der Stiche Schongauers ver-
tieft, wird auch an der Betrachtung der unscheinbaren
Nebensächlichkeiten seine Freude haben. Man beobachte,
wie zum Beispiel Seidenstoffe und Pelzverbrämung (An-
betung der Könige, h. Martin), wie jeder Knopf und
jede Schnalle, der Strick des Esels, das Holz des Kreuzes-
stammes, kurz jedes Gebilde auf das feinste charakteri-
siert wird, wie meisterhaft und mannigfaltig das Haar
behandelt ist, das sich locker und weich aus der Haut
erhebt und in lebhafter Bewegung Kopf und Gesicht
umfliesst. Jede Einzelheit ist aber nicht nur mit liebe-
voller Sorgfalt der Natur nachgebildet, sondern auch
mit delikatem Geschmack für die Schmuckwirkung ver-
wertet. Der Leuchter im Sterbezimmer Maria wird zum
Prachtwerk der Goldschmiedekunst, aber auch der zier-
liche Reiserschmuck im Haar des Verkündigungsengels,
ja jede Faltenbiegung zeigt die Lust, wie in musikalischen
Koloraturen, jeder Form mit liebenswürdiger Freigiebig-
keit eine ornamentale Nebenwirkung zu geben. Das
Wesentliche und das Nebensächliche sind in ein harmoni-
sches Verhältnis zueinander gebracht, das Beiwerk mit
Maass und Bedacht verwendet, um den Eindruck der
Wirklichkeit zu steigern und das Grundmotiv der Form
und der Bewegung hervorzuheben. Deshalb leidet die
Grösse und die dramatische Kraft der Darstellung durch
diesen Reichtum an Details keine Einbusse.

Die beträchtliche Anzahl von 11 y Kupferstichen, die
uns von Schongauer erhalten sind, wohl sicher sein ge-
samtes Stecherwerk, ist eine monumentale Schöpfung
von reifer Meisterschaft wie von innerer Geschlossen-
heit in ihrer Entwicklung. In zielbewusstem Streben
steigt der Künstler in der kurzen Zeit, die seine Lebens-
arbeitumspannt, von den Anfängen, die sich durch gewisse

Unsicherheiten und Überflüssigkeiten kenntlich machen,
in schneller Stufenfolge zur vollen Herrschaft über seine
Ausdrucksmittel auf. Er lernt bald, seine Grabstichellinie
auf das Zweckdienliche zu beschränken, so dass sie nur
der Form dient und als solche zu verschwinden scheint.
Das klare Gewebe der Liniengruppen gewinnt durch
wohlabgewogene Gegensätze eine Tiefe und Farbigkeit
der Töne, die Gestalten und Raum zu einem voll-
kommenen, in sich geschlossenen, für sich allein das
Auge befriedigenden Bilde verbinden. Hier zum ersten
Male ist mit den Mitteln der Stechkunst allein eine
Bildwirkung erzielt worden, die über die Abmessungen
der Bildfläche und über die fehlende Färbung der
Stoffe vollkommen hinwegtäuscht. Das Auge kann alle
Einzelheiten sogleich als ein bis zu einem gewissen
Grade naturgetreues Bild ohne Störung zusammenfassen.
Die Kupferstechkunst hält mit Schongauer — wie wenig
später in Italien durch Andrea Mantegna — ihren Einzug
in die monumentale Kunst, in die Kunst, die Wirklich-
keiten darzustellen sucht.

Wer den vollen Genuss von dem farbigen Glanz der
Stiche Schongauers haben will, muss sich auf die Be-
trachtung vollkommen schöner und vollkommen er-
haltener Originale beschränken. Solche Drucke wird
man aber auch in den grossen öffentlichen Sammlungen
nur in sehr geringer Zahl antreffen. Selbst die beste
Schongauersammlung, die des Berliner Kupferstich-
kabinetts, besitzt nur einen Teil, allerdings die Mehrzahl
der Werke unseres Meisters in ganz einwandfreien Ab-
drücken. Die soeben erschienene fünfte ausserordentliche
Veröffentlichung der graphischen Gesellschaft, die sämt-
liche 115 Stiche Schongauers in unretuschierten Kupfer-
tiefätzungen vereinigt, bietet also insofern mehr als
irgendeine Sammlung von Originalen, als für die Nach-
bildung immer der vorzüglichste und glänzendste Ab-
druck nach der Auswahl, die Max Lehrs, der beste
Kenner dieses Gegenstandes, unter den Schätzen der
verschiedenen öffentlichen und privaten Sammlungen
getroffen hat, benutzt werden konnte. Die Kraft der
Töne und der Gegensätze, die Klarheit der Linien-
bildungen der Originale kann freilich selbst die beste
mechanische Nachbildung nicht entfernt erreichen, die
Schönheiten der Komposition und der Zeichnung bis in
alle Einzelheiten, das Verhältnis der Tonwerte, der
künstlerische Eindruck des Ganzen kann aber durch diese
Heliogravüren mit voller Zuverlässigkeit vermittelt
werden. Die Kupfertiefätzungen sind von W. Büxen-
stein in Berlin in genauer Grösse der Originale,
ohne jede Retusche vorzüglich ausgeführt und mit
grösster Sorgfalt auf Van Gelder-Handpapier gedruckt
worden. Sie werden ein zuverlässiges und unentbehr-
liches Hilfsmittel für das Studium bilden. Wer Schon-
gauers Werke in gleichmässig schönen Drucken in der
Ruhe seines Heims gemessen will, wird an den Abbil-
dungen seine Freude haben und durch sie wieder zum
Studium der Originale angeregt werden.

DREIZEHNTER JAHRGANG. SIEBENTES HEFT. REDAKTIONSSCHLUSS AM l6. MÄRZ. AUSGABE AM I. APRIL NEUNZEHNHUNDERTFÜNFZEHN
REDAKTION: KARL SCHEFFLER, BERLIN; VERLAG VON BRUNO CASSIRER IN BERLIN. GEDRUCKT IN DER OFFIZIN

VON W. DRUGULIN ZU LEIPZIG
 
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