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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

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Heft 8
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Scheffler, Karl: Die holländische Stadt, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0370

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DELFT, DAS ARSENAL

dische Stadt ist weniger als die berühmten euro-
päischen Städte eine „Sehenswürdigkeit". In ihr
giebt es kaum Einzelbauten, die den Kunstfreund
locken. Wodurch sie zu einem Erlebnis unvergleich-
licher Art wird, das ist ihr Gesamtcharakter, ihre
organische Rassenhaftigkeit.

Man kann sagen, die holländische Stadt sei ein
Gebilde der Architektur, nicht der Baukunst. Wo-
bei die beiden Worte Architektur und Baukunst
etwa so unterschieden werden, wie die Worte
Empfindung und Gefühl. Empfindung ist Einzel-
reiz, Gefühl eine gradweis geordnete Summe von
Reizen; Empfindung ist der Teil, Gefühl ist das
Ganze. In diesem Sinne bezeichnet das Wort
Architektur etwas weitaus Primitiveres als das
Wort Baukunst. Es bezeichnet die Bauthätigkeit
innerhalb des naturalistisch Zweckvollen und
Profanen. Die Baukunst aber umfasst auch noch
die ganze Welt der rein darstellenden Form. Die
Architektur schafft mit charaktervoller Solidität
auf dem Boden des Handwerks und der Tradition
nützliche Bauwerke; die Baukunst wandelt, darüber
hinaus, ein abstraktes Stilsystem ab. Man darf be-
haupten, dass der ganzen holländischen Kunst —
sogar die Malerei, der Gipfel dieser Kunst, ist nicht

ausgenommen — das gleichgültig ist, was wir Stil
nennen. Sie hat aufs höchste und eigenartigste Cha-
rakter, aber sie ist nicht eine Stilkunst. Die italieni-
sche Stadt — das ist die Renaissance, die Stadt des
deutschen Mittelalters — das ist die Gotik; die
holländische Stadt aber ist nur das Gebilde einer
nationalen, bürgerlichen Nutzarchitektur. Nur!
denn dass die Stilideen, der sich die Italiener, Deut-
schen, Franzosen in der Geschichte unterworfen
haben, etwas Höheres ist, bedarf keines Beweises.
Die Idee des Stils bedingt eine erhabene Abstrak-
tion, einen über das Bedürfnis weit hin ausblicken-
den Willen zum Symbol, ein Leben im Gleichnis-
haften der reinen darstellenden Form, einen Sinn
für die Steigerung des Künstlerischen bis zu einem
Typischen von fast religiöser Gewalt. Man denke
an die Säule: sie ist eine Quintessenz, ein Symbol
von ewiger Bedeutung; man betrachte das Gesims:
es ist eine künstlerische Erfindung, frei von aller
naturalistischen Zweckmässigkeit, hinaufgehoben
in die Sphäre reiner Erkenntnis und denkender
Anschauung. Alle höheren Stilformen der Bau-
kunst sind in diesem Sinne Symbolisierungen un-
sichtbarer Kräfte, sind Gebilde einer statisch denken-
den Poesie, sind Formen, in denen das tief emp-

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