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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

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Heft 12
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Elemente der Anschauung, ja stellt sie dar; und die
wesentliche Übereinstimmung der allgemeinen An-
schauung und der Realisierung macht eben das Kunst-
werk aus. Diese strenge, durch genaue Beschäftigung
mit Kunst und ihren Methoden erworbene Anschauung
bestimmt die Stellung des Verfassers zu seinem Gegen-
stand bis in jedes Einzelurteil. Und auf diesem konse-
quenten Anwenden eines eindeutigen und geklärten
Kunstbegriffs beruht die geradezu künstlerische Einheit
des Buches, die wegen seines gedrängten Inhalts doppelt
wertvoll ist.

Der Verfasser unternimmt es, ohne Rücksicht auf
Entstehungszeiten, -orte und Stilunterschiede der ein-
zelnen Werke, zunächst das Gesammtbild dieser Kunst
zu zeichnen, die ihm einen bedeutenden Fall plastischen
Sehens darstellt. Im zweiten und vierten Kapitel werden
die beiden plastischen Anschauungsweisen der histo-
rischen und der afrikanischen Kunst einander gegen-
übergestellt. Bei der ersten führt eine Neigung zum
malerischen Erfassen des Kubischen immer mehr dahin,
den dreidimensionalen Formbau zu unterdrücken: An
den Gestalten werden entweder die dem Beschauer
nahen Flächen betont und bildmässig geordnet, oder
dasKubischewird durch eingegenständlichesBewegungs-
äquivalent oder durch gezeichnete und modellierte
Formbewegung, selbst durch perspektivische Versuche
ersetzt. Mit der zunehmenden Vermischung des Plasti-
schen und Malerischen in Europa, zumal im Barock,wächst
die Plastizität, die Modellierung des Einzelnen, jedoch
die einheitliche Raumkomposition nimmt ab. Zugleich
wird das Bildwerk immer mehr Leiter psychologischer
Erregungen zwischen einem möglichst gesteigerten
Schöpfer und einem möglichst angeregten Beschauer,
wird zuletzt Umschreibung des beabsichtigten Effekts,
den der Künstler beim Arbeiten schon vorwegnimmt.
Wer mit der Geschichte der Plastik Bescheid weiss —
und an solche Leser wendet sich das Buch — wird diese
Beobachtungen leicht auf bestimmte Zeiten und Werke
beziehen und in den aufdreiSeiten zusammengedrängten
Leitsätzen einen neuen und fruchtbaren Weg zur
Beurteilung der europäischen Plastik finden. Der Ver-
fasser deutet auf die futuristische Plastik als Ende und
Auflösung dieser Kunst hin. Die ihr folgende Krisis
besteht im Loslösen von jener Kunstanschauung und
im Suchen nach einer unmittelbaren Raumauffassung
und reinen plastischen Formen. Zugleich entdeckte
man notwendig die Negerplastik, die — aus verwandten
Bestrebungen hervorgegangen — sich als ein Beispiel
eben des formalen Realismus erwies, um den man sich
mühte.

Der dritte Abschnitt breitet als Vorwort für die
künstlerische Analyse des vierten die psychischen Vor-
aussetzungen dieser Plastik aus. Sie ist religiös bestimmt.
Die Bildwerke werden verehrt, das Arbeiten daran ist
Adoration, mithin das Kunstwerk als Mühe um einen
Effekt hier sinnlos, da seine Wirkung im Religiösen

bereits vorausbestimmt ist. Dieser Transzendenz ent-
spricht eine räumliche Anschauung, die jede Funktion
des Beschauers wie jede Willkür des Künstlers ausschliesst.
Da das Werk als mythische Realität gilt, kann es niemals
Porträt sein. Auch andere Merkmale dieser Kunst-
anschauung werden aus dem Religiösen gedeutet: die
starke Verselbständigung der Teile, das Fehlen des
Sockels, das Meiden der Perspektive und des Modells,
das restlose Aufgehen der Bewegungen in der Gesamt-
form. Im Religiösen ist die abgelöste Form dieser
Kunst begründet, formale und religiöse Geschlossenheit
entsprechen sich in ihr.

Ein wichtiger Teil des vierten Kapitels ist der
Unterscheidung von Masse und Form, der Bestimmung
der künstlerischen Form und ihrer Elemente gewidmet.
Neu ist hier das Unterscheiden einer „Tiefenrichtung"
und einer „Tendenz nach vorn" im Bildwerk, die als
gesonderte Arten der Raumerzeugung und erstklassige
Formunterschiede erkannt werden. Die europäische
Kunst hat die elementare Aufgabe der Plastik — das
Dreidimensionale als Form auszuprägen — mit ihren
Mitteln: Frontalität, vielfältige Ansicht, übergehendes
Modele und plastische Silhouette eher umschrieben als
gelöst. Das Kubische wird dabei als materielle Masse,
nicht unmittelbar als Form vorgestellt. Der Neger
schafft den Raum als Totalität und vollständige Identität
des Einzeloptischen mit der Anschauung. Deshalb spielt
dort die Monumentalität — als Grösse — eine Rolle;
hier die plastische Intensität der fixierten Raumkontraste
und -konstanten. Form ist hier weder an die Masse
noch an die organische Proportion (Modell) gebunden.
So werden zum Beispiel in den sogenannten gewundenen
Gliedmassen mancher Bildwerke sonst nur geahnte
zurückgelegene Partien formal aktiv. Ebenso gedrängte
wie treffende Bemerkungen zur plastischen Gruppe
beschliessen dieses Kapitel, dessen Ausführungen über
den Einzelfall der Negerkunst hinaus gewisse Grund-
fragen der Plastik aufklären. Sie können als Anfang zu
einer Theorie der Plastik angesehen werden, die bisher
fehlt. Die in der modernen Kunstlitteratur neue, rein
kunsttheoretische und philosophische Methode der Be-
trachtung, die vom Historischen vollständig absieht,
erfordert vom Leser ein ungewöhnliches Maass der
Mitarbeit. Sie setzt auch die Kenntnis der Arbeiten
von Julius Lange, Hildebrand, Worringer und anderen
voraus, die sie widerlegt.

Über eine Reihe von Fragen, die bisher der Ethno-
logie und Völkerpsychologie überlassen blieben, giebt
der letzte Abschnitt neue und wertvolle Aufschlüsse.
Tätowieren heisst: seinen Körper zum Mittel und Ziel
einer Anschauung zu machen, über den naturalistischen
Leib hinweg die von der Natur skizzierte Form ver-
stärken, ja negieren, seinen Leib dem Allgemeinen
(Stamm, Gottheit) sichtbar hingeben. Durch die Maske
verwandelt der Träger selbst sich in den Stamm und
den Gott; deshalb muss sie unpersönlich, konstruktiv,

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