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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 19.1921

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Heft 7
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Liebermann, Max: Mit Rembrandt in Amsterdam
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https://doi.org/10.11588/diglit.4746#0273

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MIT REMBRANDT IN AMSTERDAM

VON

MAX LIEBERMANN

Oglückliche Zeiten, wo wir uns alljährlich
einige Wochen, ja sogar einige Monate in
Holland genießend und arbeitend, arbeitend und
genießend aufhalten durften! Nicht etwa, daß uns
Holland seit dem Kriege verschlossen wäre. Aber
bin ich sicher, in einem alten Bekannten nicht
einen Ententisten zu treffen? Oder gar einen
Freund, der mich bemitleidet? Nein! Die ruhige
Unbefangenheit, dieses erste Erfordernis zum reinen
Genießen von Natur und Kunst, können wir vor-
erst nur zu Hause finden. Bis wir uns selbst
wiedergefunden haben, müssen wir aufs Reisen
— auch in Neutralien — verzichten. Denn der
nur zu begründete Argwohn vor dem zischenden
Gift der Verleumdung könnte uns stören, wenn
wir am Jy spazierten, oder wenn wir die „Staal-
meester" bewunderten, oder wenn wir am Meere
in die unermeßliche Schönheit eines Sonnenunter-
ganges uns versenkten.

Aus diesen traurigen Gedanken riß mich die
Lektüre von Lugts Buch*: ich atmete wieder wie
vor dem Kriege holländische Luft, die wunder-
vollen Lüfte der wassergeschwängerten Atmosphäre
umgaben mich, ich war wieder in der schönsten
Stadt der Welt — ich war in Amsterdam. Ich
wanderte die Grachten und Kanäle entlang, an
den schmalen Häusern mit ihren hohen Giebeln
mit ihren tiefrot gefärbten Steinen. Und ich sah
das Amsterdam aus der Mitte des siebzehnten Jahr-
hunderts in all seiner Schöne, als es noch nicht
von den Scheußlichkeiten der Amerikanisierung
entstellt war. Denn ich durfte es sehen, wie es
Rembrandt gesehen hatte. An seiner Seite durfte
ich die damals größte und reichste Handelsstadt
der Welt von einem Ende bis zum andern, vom
Rathaus bis zum Obelisken und bis zu Diemer-
bruck durchstreifen.

Mit Rembrandt in Amsterdam! Mit ihm, dessen
Genius Shakespeares Dramatik mit der Lyrik
Goethes, die kindliche Seele Mozarts mit der
grüblerischen Tiefe Beethovens vereinigt.

Lugts Buch ist das Ei des Kolumbus. Was

* Mit Rembrandt in Amsterdam. Nach der hollän-
dischen Ausgabe von Fiits Lugt, deutsch von Erich Hancke.
Berlin 1920, Bruno Cassirer Verlag.

erscheint einfacher als der Nachweis, wo Rem-
brandt diese oder jene seiner Zeichnungen oder
Radierungen „gegriffen" hat. Aber wie überall
ist das Einfachste das Schwerste. Ich spreche
nicht von der unglaublichen Arbeit in den Archiven,
von der Kenntnis der zeitgenössischen Kunst und
Literatur, die aus jeder Seite des Buches hervor-
leuchtet: darüber mögen Kunsthistoriker sprechen.
Ich führe nur das Urteil eines holländischen Schrift-
stellers an, daß in Lugts Buch hundert Ent-
deckungen wären, über deren einzelne jeder Kunst-
gelehrte sich glücklich schätzen würde, sie gemacht
zu haben, wobei noch ins Gewicht fällt, daß in
keinem Lande der Welt die Kunstkritik so intim
und exakt betrieben wird wie in Holland.

Aber — ich höre den Einwand — wen
interessiert es außer ein paar Kunstgelehrte, wo
Rembrandt gesessen, als er die Radierung mit
dem Milchmann oder die Zeichnung vom Diemen
gemacht hat. Gewiß, für den Wert des Werkes
ist es ganz gleichgültig zu wissen, wo es entstanden,
ob es die Phantasie frei erfunden hat oder ob
es aus der Naturanschauung entstanden ist: wie
es für den Kunstwert des Faust ganz gleichgültig
ist zu wissen, ob Goethe sein Gretchen und seine
Ottilie nach Kätchen Schönkopf oder der Minna
Herzlieb gezeichnet hat. Für die ästhetische Er-
kenntnis jedoch ist es von unschätzbarem Wert, das
Original, nach dem der Künstler gearbeitet hat, zu
kennen. Denn der Vergleich mit der Natur lehrt
uns, worin die „Kunst" des Künstlers besteht: er
liefert uns den Beweis ad oculos für die Richtigkeit
oder Unrichtigkeit der Resultate des methodischen
Denkens über sein Verhältnis zur Natur. Was wir
bei Goethe jetzt nur ahnen können, inwieweit seine
Gedichte Gelegenheitsgedichte sind, können wir in
Bezug auf Rembrandts landschaftliche Zeichnungen
mit apodiktischer Gewißheit behaupten, nachdem
jetzt, nach bald dreihundert Jahren der Standpunkt,
von wo der Künstler sie verfertigte, festgestellt ist.
Dadurch ist der Beweis erbracht, daß sie im engsten
Anschluß an die Natur entstanden sind, was doppelt
interessant ist einem Rembrandt gegenüber, dessen
grenzenlose Phantasie niemand bestreiten wird. Es
ist der klarste Beweis für die Feststellung der

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