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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 22.1924

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Heft 7
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Utitz, Emil: Neuer Naturalismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.4654#0179

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daß die eine die andere ermöglicht,
die eine an der anderen und durch
diese sich erlöst und befreit. Die
volle Hingabe an die „Wirklichkeit"
entsiegelt die schöpferischen Kräfte,
und diese wieder treiben in jene
Hingabe hinein. Auch in schwär-
merischester Entrückung muß „Wirk-
lichkeit" erfaßt werden, sonst bleibt
es bei leerer, unerfüllter Phantastik.
Darin bewährt sich die strenge, un-
erbittliche Sachlichkeit nicht allein
der Kunst, vielmehr jeglichen geisti-
gen Seins, der Wissenschaft so gut
wie der Religion oder der Sittlichkeit.

Es ist eine unsagbar traurige Ver-
irrung, zu meinen, irgendeine Kunst
könne jemals etwas anderes wollen
als „Wirklichkeit". Auf Gedeih und
Verderb ist die Kunst an sie gebun-
den ; und in dieser Bindung liegt
ihre Größe, ihre Unsterblichkeit.
Sonst bliebe es bei müßigem Spiel.
Die Einwände gegen diese Anschau-
ung sind so billig, so leicht, daß es
kaum lohnt, alle zu prüfen. Nur
einige Anmerkungen seien ihnen ge-
widmet: wollen wir denn nicht in
der Kunst häufig gerade der „Wirk-
lichkeit" entfliehen? Sicherlich, aber
doch um — wie man schon populär
zu sagen pflegt — eine höhere, viel-
leicht freiere und weitere Wirklichkeit
einzutauschen. Wer nicht diese tiefe,
evidente, fraglose Wirklichkeit der Kunst erlebt,
der weiß nicht, was Kunst ist. Der sieht sie immer
nur in der Sphäre von Schmuck und Zier. Aber
nicht genug kann vor dem Mißverständnis ge-
warnt werden, als ob die „Wirklichkeit" gleich
einer festen Wand vor uns aufgetürmt wäre, der
wir uns bald nähern und die wir wieder verlassen.
Das ist der Grundfehler des falschen Naturalismus.
In ihm steckt der unglaublich anmaßende Anspruch,
einen zufälligen Gesichtsausschnitt verabsolutierend
für „die" Wirklichkeit zu erklären. Dieser unkriti-
sche Glaube wird heute in ernst zu nehmenden
Kreisen wohl allgemein abgelehnt. Schon die ein-
fachste Wahrnehmung ist keine passive Kopie einer
objektiven Gegebenheit, sondern Ergebnis einer

FRITZ HUF, BILDNISBUSTE MAX LIEBERMANN. BRONZE. 1923

MIT ERLAUBNIS DER GALERIE A. FLECHTHEIM, BERLIN

Auseinandersetzung zwischen meinem Ich und
einem nicht Ich-haften, jedenfalls nicht meinem
Ich Angehörigen. Wenn also im schlichten Wahr-
nehmen bereits meine Persönlichkeit, mein Tem-
perament, mein Charakter, meine Intelligenz nach
Anlagen, Erziehung, Interessen, Gewohnheit sich
ausprägen, ist jeder streng naturalistischen Theorie
im voraus der Boden entzogen. Denn die „Wirk-
lichkeit", in der wir leben und die uns als ganz
selbstverständlich erscheint, ist zwar gewiß kein
Erzeugnis willkürlicher Phantasie, wohl aber eine
Wirklichkeit für „uns", für unsere Ziele und Zwecke.
Die Welten eines Blinden oder Tauben und eines
Sehenden, eines Kindes und eines Erwachsenen,
eines Kaufmannes und eines Künstlers sind eben

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