Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe (23.1925)

ZUM BAUPROBLEM DER ZEIT

VO N

WALTER CURT BEHRENDT

I

Beladen mit einer ungeheuren Fracht an neuen
materiellen Werten, die wir in einer Epoche
rastlosen Schaffens und Erfindens gewonnen haben,
stehen wir heute vor der Aufgabe, unser Leben
mit diesem Gewinn neu einzurichten. Man mag
diesen Gewinn für eine Bereicherung so gut wie
für eine Belastung halten, er ist aus unserem Le-
ben nicht mehr wegzudenken und die notwendig
gewordene Neuordnung des Lebens hat mit diesem
Tatbestand zu rechnen. Der große weltgeschicht-
liche Umwandlungsprozeß, der sich im Zeichen der
Industrialisierung vollzogen hat, beginnt in ein
neues Stadium zu treten: das Gewonnene muß
nun angewendet, es muß geistig erobert und ver-
arbeitet werden.

Es ist das entscheidende Merkmal dieser Epoche,
daß im Mittelpunkt des jetzt beginnenden Ord-
nungsprozesses der Mensch steht. Das neu Ge-
wonnene -wird nicht mehr schlechthin als ein Er-
zeugnis des Fortschritts betrachtet, sondern es

wird gewertet in seiner Beziehung und Bedeu-
tung für den Menschen. Der Mensch, so schrieb
H. G. Wells vor kurzem, hat jetzt begonnen, seine
praktische Aufmerksamkeit sich wieder selbst zu-
zuwenden.

Die neuen Arbeits- und Wirtschaftsmethoden,
die mit dem Begriff der Industrialisierung bezeich-
net werden, sind da, aber die neue Arbeitsordnung,
die unter voller Anerkennung und Ausnutzung
dieser Methoden dem arbeitenden Menschen wieder
vernünftige und natürliche Lebens- und Daseins-
bedingungen gewährleisten kann, ist noch zu ent-
wickeln; die neuen Lebensformen, die sich aus
dieser Neuordnung ergeben müssen, sind kaum in
Ansätzen schon zu erkennen, und die neue Welt-
anschauung, die dem jetzt wieder verstärkt hervor-
tretenden metaphysischen Bedürfnis Genüge leisten
könnte, ist erst zu begründen. Große Aufgaben
sind damit umschrieben. Die Kunst, und gerade
die Kunst, ist berufen, an ihrer Lösung in hervor-
ragendem Maße mitzuwirken.

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