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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 24.1926

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Heft 9
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KRITIK DER KRITISCHEN KRITIK

VON
R. HERBERTZ

„Wir müssen unserer Torheit ab
und zu froh merden, um unserer
Weisheit froh bleiben zu können."
(Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft.)
Tch komme an einem Bauernhause vorbei. Davor steht eine
*- Bank. Darauf sitzt ein Bauer. Er hat den „Bauernkalender"
in der Hand und betrachtet das Titelblatt. Es zeigt ein
Bauernhaus mit einer Bank davor. Auf dieser Bank sitzt ein
Bauer mit dem „Bauernkalender" in der Hand und betrachtet
das Titelblatt. Es zeigt ein Bauernhaus . . . und so weiter,
und so weiter mit Grazie in indefinitum! . . .

Es gibt ein Bild von Meissonier: die Liebhaber. Pikante
Malerei bei scharfer Zeichnung. Die Figuren seelenlos, aber
äußerst gewissenhaft dargestellt: scharfe kühle Charakteristik,
elegante Stoffmalerei.

Zu diesem Bilde schrieb vor etwa einem halben Jahr-
hundert irgendein vergessener Kritiker an irgendeinem ver-
gessenen Orte folgende Betrachtung: Kunst und Kritik im
Puder! Die Zeit der gepuderten Haare war die Zeit der
zierlichen Unnatürlichkeit . . . Man liebte den Buchsbaum zu-
geschnitten in Form von antiken Lampen. Man flocht bunte
Korallenketten in die Blumenbeete. Die Gartenwege zirkelte
man in regelrechten Kreisen ab und legte gradlinige Wege
zu den Rondels an und das Abbild dieses Geschmacks war. . .
die Kunst! Die Gestalten waren akademische Aktfiguren mit
ganz modernen Gesichtern, aber antiker Gewandung und
antik theatralischer Haltung. Oder man ließ Schäferinnen im
Reifrock ihre Scbäflein auf wunderbar blumenbunten Wiesen
an rosa und blauen Bändchen führen. Meissonier, der große
Charaktermaler dieser Epoche, führt uns in das Maleratelier
eines solchen Künstlers, der die Natur sozusagen nur aus
der gestickten Handkrause heraus malt, mit schneeweißen,
zarten Fingerchen, auf denen ein Dianiantring glänzt, dessen
Funkeln den Maler zum Schaffen anregt. Der Künstler malt
nur mit den spitzesten Pinseln, mit den kontrastierendsten
Farben und fast alles ist schimmernde Lasur. So geht die
Sonne unter, funkelnd und goldgelb, dukatenrund und blank.
Ihr Strahl vergoldet die Baumwipfel, die so üppig gehalten,
als wären sie aufgebauscht durch einen unsichtbaren Reifrock.
Er malt die sprudelnde Quelle, deren Silberschaum so an-
mutet, als wärs im Theater. Und jetzt ist er beschäftigt,
eine kleine Figur als Staffage hinzusetzen. Es ist die
obligate „badende Nymphe", genau so wie die Antike sie
überliefert hat. Zwar ohne Leben, aber „korrekt antik".
Darauf hat der Maler jetzt seinen ganzen Künstlergeist kon-
zentriert. Und seine kritischen Freunde — die Liebhaber
und Kritiker — schauen sehr aufmerkam zu, ob dies Figür-
chen auch „antik genug" herauskommt . . . Also: unser ver-
gessener Kritiker betrachtet das Meissoniersche Bild, auf dem
die Kritiker das Bild unter dem Pinsel des Malers betrachten.
Dieser Maler betrachtet seinerseits die Figuren seines Bildes.
Diese wiederum betrachten ... Es ist wie oben mit dem
Bauernkalcnder: Und so weiter, und so weiter mit Grazie
in indefinitum . . .

Was hat es nun auf sich mit diesem potenzierten Doppel-

gängermotiv? Mit dieser Kritik der kritischen Kritik? So
nannten ja bekanntlich auch Marx und Engels einst ihre
„Aufklärung des Publikums über die Illusionen der spekula-
tiven Philosophie."

Aber auch die gar nicht spekulative, ganz praktische,
ganz realistische Weltbetrachtung hat ihre „Illusionen". Wie
wäre es, wenn wir auch diesen gegenüber eine Kritik der
kritischen Kritik in Szene setzten? Auch zur „Aufklärung
des Publikums!" . . . Haben wir es nicht vielleicht schon

— gerade jetzt — getan??

Rainer Maria Rilke schrieb „Malte Laurids Brigge". Dieser
schrieb Aufzeichnungen. Deren Ilauptgestalt schrieb ihrer-
seits . . . Nein! Ich will nicht langweilig werden. Also kurz:
Rilkc-Brigge ist das fleischgewordene in indefinitum poten-
zierte Doppelgängermotiv. Auch so ein „Bauer mit dem
Bauernkalender"!

Und ist es nicht merkwürdig? Dieser selbe Rilke dichtete

— wollte sagen malte die „Flamingos": „In Spiegelbildern
wie von Fragonard . . ." Man beachte: Spiegelbilder! Aber
ich muß ihn ganz zu Ende malen lassen:

In Spiegelbildern wie von Fragonard
Ist doch von ihrem Weiß und ihrer Rote
nicht mehr gegeben, als dir einer böte,
wenn er von seiner Freundin sagt: sie war

noch sanft von Schlaf. Denn steigen sie ins Grüne
und stehn, auf rosa Stielen leicht gedreht,
beisammen, blühend, wie in einem Beet,
verführen sie verführender als Phyrne

sich selber; bis sie ihres Auges Bleiche

hinhalsend bergen in der eignen Weiche,

in welcher Schwarz und Fruchtrot sich versteckt.

Auf einmal kreischt ein Neid durch die Voliere;

sie aber haben sich erstaunt gestreckt

und schreiten einzelns in Imaginäre.
Gewiß, gewiß, ich weiß, ich verstehe! Farbensinfonie,
visionäre Anschaulichkeit, wunderbar künstlerisch sich aus-
wirkende „audition coloree". Das alles neu, eigenartig, durch-
aus heutig!

Und doch! Ich kann nicht anders: Meissonier fällt mir
ein und die „zierliche Unnatürlichkeit", die „Kunst im Puder"!

Und dieser selbe Rilke läßt Flamingos sich selbst ver-
führen und einzeln ins Imaginäre schreiten! Wo geht der
Weg dorthin, der Weg ins Imaginäre? Die „Spiegelbilder"
geben Auskunft. Es ist der Weg des Bildes des Bildes des
Bildes . . . usw. usw. Wieder der Mann mit dem Bauern-
kalender!

Nehmen wir an, Rilke läse jene „Kunst und Kritik im
Puder" des vergessenen Kritikers. Die „Folgen" wären nicht
abzusehen! Rilke liest kritisch den vergessenen Kritiker, der
seinerseits Meissonier kritisiert, der auf seinem Gemälde den
Kritiker kritisieren läßt, welcher . . . Aufhören, aufhören!!!
Beginnende Schizophrenie? Oder aber tiefste symbolische
Einsicht in das Wesen, in die Selbsttranszendenz mensch-
licher Erkenntnis überhaupt???

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