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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 25.1927

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Heft 12
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Rothenstein, John: William Rothenstein als Porträtzeichner
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https://doi.org/10.11588/diglit.7392#0478

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:\4-

- der

der damaligen, auf die Oxford-Bewegung folgenden
Generation, durchzumachen hatte. Als sein Glaubens-
eifer aber nachzulassen begann, entschloß er sich
dazu, Künstler zu werden. Sein Vater war nicht
wenig überrascht, als er von dieser plötzlichen
Wendung hörte, er gab dennoch seine Zustimmung,
und im Jahre 1888 trat der Sohn in die Slade-
Schule in London ein. Die akademische Tradition
hatte in England und Frankreich zu sehr abwei-
chenden Resultaten in der Malerei geführt. In
England war sie zu dem geistlosen und hohlen
Pseudo-Klassizismus eines Leighton und Alma Ta-
dema verflacht, jenseits des Kanals aber war Jean
Dominique Ingres ihr Führer. Der junge Studie-
rende aus Bradford hatte das Glück, nicht von
einem seiner Landsleute in die Anfangsgründe ein-
geführt zu werden, ein Schüler Ingres', Alphonse
Legros, der damals an der Slade-Schule lehrte, wurde
sein Meister. Im folgenden Jahre setzte Rothen-
stein seine Studien in Paris in der Ecole Julian
fort. Selbst in dieser, von Exzentrizitäten aller Art
geladenen Atmosphäre wurde Paris auf die dandy-
hafte Eigenart des siebzehnjährigen Engländers auf-
merksam, dessen Begeisterung für die neuen Ideen,
dessen inbrünstige Liebe zur Literatur nur noch
durch die Hingabe an seine eigene Kunst und
durch die sorgfältige Pflege seiner Kleidung über-
troffen wurde. Edmond de Goncourt und Emile
Zola kamen ihm so herzlich entgegen, daß er als
ständiger Gast bei ihnen aus und ein ging. Er
wurde bald eine bekannte Persönlichkeit und durfte
Puvis de Chavannes, Toulouse-Lautrec, Verlaine,
Oskar Wilde, Whistler, Rodin, Degas, Alphonse
Daudet und Ludwig von Hofmann teils zu guten
Bekannten, teils zu seinen vertrauten Freunden
zählen. Mit Ausnahme der ersten Beiden, hat er
von ihnen, sowie von Fantin-Latour und den bei-
den Coquelins Porträts gezeichnet. Diese Porträts
sind größtenteils in Pastell oder schwarzer Kreide
auf braunem Papier oder auf Pappe gezeichnet,
nur wenige sind mit Feder und Tinte ausgeführt.
Alle aber waren überraschende Improvisationen,
in Stil und Empfindung durchaus französisch wir-
kend. Er blieb bis zum Frühling 1893 in Paris,
und verlebte dort Zeiten voller stärkster künstle-
rischer, intellektueller und sozialer Anregungen.
Erfüllt von den französischen Ideen kehrte er nach
England zurück. Die nächste Phase seiner Künstler-
laufbahn, ein Aufenthalt in Oxford, der uns von

seinem lebenslänglichen Freunde, Max Beerbohm,
sehr unterhaltend geschildert wird, wurde zu einer
Reihe von Lithographien nach Mitgliedern der Uni-
versität verwendet. Von 1894—1911 lebte er in
London, wo er neben seinen Bildern jene Porträt-
werke herausgab, die, mit kurzem begleitendem
Text von Zeitgenossen versehen, periodisch er-
schienen und einen wichtigen Beitrag zur sozialen
Geschichte jener Zeit bildeten. Unter den Modellen
zu seinen Porträts jener Periode nennen wir Ber-
nard Shaw, Swinburne, George Moore, Marley,
Rüssel, Henry James, Aubrey Beardsley, Lord Kel-
vin, die Herzogin von Rutland, Thomas Hardy
und H. G. Wells. Bei seinen wiederholten Aufent-
halten in der Normandie und in Burgund malte
er Landschaften; im Jahre 1897 besuchte er seinen
Freund Oscar Wilde, der als Verbannter in Berneval
lebte. Auf seinen Malerausflügen begleiteten ihn
oft Augustus John, Sir William Orpen, sein Schwa-
ger und sein jüngerer Bruder.

Im Jahre 1899 heiratete er die älteste Tochter
des Malers Knewstub und seiner schönen Gattin,
Emily Reushaw, die Rossetti zu mancher seiner
berühmten Frauengestalten Modell gesessen hatte.
Ein Schüler von Dante, Gabriel Rossetti, mit
William Morris, Madox Brown und Sir Edward
Burne-Jones befreundet, war Knewstub ein geschwo-
rener Präraffaelit, und mit gemischten Gefühlen be-
grüßte er diesen Anhänger Whistlers undVerfechter
französischer Ideen als seinen Schwiegersohn.

Wenn auch die Modelle der meisten Porträts
dieser Periode Engländer waren, so benutzte er
doch seine Reisen nach Frankreich dazu, Porträts
von Rodin, den Coquelins, Verlaine, Fantin-Latour
und Anatole France zu zeichnen, in Deutschland por-
trätierte er Gerhard Hauptmann, den Staatsmini-
ster von Hofmann, seinen Sohn Ludwig, Adolf
von Menzel, Hans Singer und Bernt Grönwold.
Die orientalische Philosophie und Kunst hatten
schon immer das Interesse Rothensteins erregt und
so entschloß er sich im Jahre 1911 zu einer län-
geren Reise nach Indien. In Kalkutta wurde er
eines Tages von der prachtvollen Erscheinung eines
Inders so gefesselt, daß er ihn ansprach und bat,
ihm zu einem Porträt zu sitzen. Bei der Sitzung er-
zählte der Inder Rothenstein von seinen Dichtungen.
Diese machten einen so starken Eindruck auf Rothen-
stein, daß er dem Dichter riet, nach England zu
fahren, um dort eine Übersetzung seiner Gedichte zu

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