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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 29.1931

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Heft 2
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Glaser, Curt: Tschi Bai-Shi
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https://doi.org/10.11588/diglit.7610#0099

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TSCHI BAI-SHI

von CURT GLASER

Man hört oft darüber klagen, die Welt sei
klein geworden und gleichgemacht, seit
durch Industrie und Verkehr die Völker einander
näher gerückt sind. Der Pariser Montparnasse ist
die Heimat der Heimatlosen, aus deren Volapük
die Kunst der ganzen Welt gespeist wird. Denkt
der europäische Ausstellungsbesucher und Zeitungs-
leser an moderne japanische Malerei, so ist ihm
kein anderer Name gegenwärtig als Fujitaund keine
andere Vorstellung als die einer Geschicklichkeit
und Eleganz, die den modischen Erfolg eines gänz-
lich dem weltstädtischen Leben in Paris assimi-
lierten Exoten verbürgen.

Aber die Welt ist nicht ganz so klein. Das Gesetz
der Kunst wird auch heute nicht allein von Paris
diktiert. In dem von Bürgerkrieg und Revolution
erschütterten China gedeihen Talente, die durch den
Einbruch europäischer Methoden und Ideen in den
Bereich einer jahrtausendalten Kultur sich nicht
beeinflussen und nicht beeinträchtigen ließen. Wäh-
rend sich die europäischen Liebhaber und Kenner
chinesischer Kunst in immer tiefere Vergangenheit
zurückziehen und Bilder nicht gern eines Blickes
würdigen, die nicht zum wenigsten einen Stempel
der Sung-Zeit aufweisen können, während geflis-
sentlich die Legende von dem allmählichen Nieder-
gang chinesischer Kunst in den späteren Jahrhun-
derten ihrer Geschichte verbreitet wird, gibt es in
Wahrheit — Europa fast unbekannt — bis zum
heutigen Tage eine sehr lebendige und keineswegs
in Tradition und Nachahmung erstarrte chinesische
Malerei. Es lebt in China, schon hochbetagt, ein
Maler von außerordentlicher Begabung, von einem
in allen Zeiten seltenen schöpferischen Talente. Tschi
Bai-shi ist der Name des Zweiundsiebzigjährigen,
der mit der Kraft und der Frische, die nur bedeuten-
den Künstlern in Jahren des Alters bewahrt bleibt,
den Pinsel führt.

Tschi Bai-shi lebt, unbeirrt durch das Beispiel

Anmerkung der Redaktion: Die Abbildungen nach
Werken Tschi Bai-shis sind einer Ausstellung von Werken
moderner Maler aus China und Japan entnommen, die Pro-
fessor Chytil von der Akademie in Peking in der Berliner
Secession veranstaltet hat. Wir weisen schon bei dieser Ge-
legenheit darauf hin, daß im Monat Januar eine umfassende
Ausstellung neuzeitlicher japanischer Malerei mit Unter-
stützung der japanischen Regierung von der Gesellschaft für
ostasiatische Kunst und der preußischen Akademie der Künste
in deren Räumen veranstaltet werden wird.

europäischer Kunst, gänzlich und allein in der Tra-
dition seines Landes. Uralter Geist chinesischer
Tuschmalerei ist in seinen Bildern lebendig, die
ganze Weisheit seiner Ahnen in dem Strich seines
Pinsels wirksam. Aber dieser bedeutende Künstler
ist der Uberlieferung seiner Nation nicht anders
verpflichtet wie jeder europäische Meister der Ver-
gangenheit seines Landes. Die großartige Kühnheit
des Pinselstrichs, die Tschi Bai-shis Bilder auszeich-
net, gründet sich auf jene seit uralten Zeiten immer
wiederholte Schulung des Auges wie der Hand, die
den Entwicklungsweg chinesischer Kunst in ihrer
Gesamtheit wie den Weg jedes einzelnen unter den
großen Malern der Nation begreiflich werden läßt.
Wie alle Werke seiner Vorläufer, so sind alle die
Studien und Skizzen, die er selbst in einem langen
Leben gezeichnet hat, die notwendige Vorbedingung
jener unfehlbaren Sicherheit letzter Niederschrift
eines Bildes, in dem das Naturerlebnis, aus seinem
geistigen Niederschlag heraufbeschworen, auf sei-
nen stimmunghaften Gehalt zurückgeführt er-
scheint.

Der Geist dieser Kunst ist so urchinesisch, daß
man an die Namen der großen Meister der Sung-
Zeit, in denen solche Form der Malerei ihren Ur-
sprung nahm, zu erinnern sich versucht fühlt.
Durch viele Generationen führte der Weg der
Entwicklung, der noch heute wohl erkennbar ist,
zu der Form dieses letzten Erben. Denn diese Form
erscheint über die Grenzen der Länder hin — weit
entfernt von allem gleichmachenden Tritt der
Zeit — so unmittelbar gegenwärtig, daß man un-
willkürlich an die gewiß aus anderem Geiste ent-
standenen und aus anderen Voraussetzungen zu
erklärenden Aquarelle des alten Corinth erinnert
wird.

Die Kunst des alten China lebt in den Werken
Tschi Bai-shis fort, wie die Kunst des alten Eu-
ropa in den Werken jedes großen Künstlers unserer
Zeit. Seine Bilder sind der lebendige Beweis, daß
die Größe und die schöpferische Kraft, die wir
in den Jahrtausenden der Geschichte des Reiches
der Mitte bewundern, auch heute so wenig er-
loschen ist, wie die schöpferischen Kräfte der Na-
tionen, die an dem Bau der künstlerischen Kultur
Europas tätig gewirkt haben.

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