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Vor dem Postschalter
Die Einführung der neuen Werthzeichen hat um 1. April zu einem
wahren Sturm auf die Postschalter geführt, weil das große Publicum
sich in der irrthümtichen Meinung befand, die alten Marken müßten
an diesem Tage gegen neue umgetauscht werden. Von sämmtlichen
Postämtern wird über interessante Vorgänge aller Art berichtet.
Bei verschiedenen Postämtern war das Gedränge so stark, dag die
Menschen in den Schalterräumen keinen Platz fanden, sondern in
dichten Haufen draußen auf dem Trottoir und dein Fahrdamm standen
und den Verkehr störten. Nur mit großer Mühe gelang es der Polizei,
die Passage für Fußgänger und Wagen frei zu halten. Vor den
Schaltern kam es oft zu unerfreulichen Scenen, da natürlich einzelne
sich vorzudrängen suchten oder von der falschen Seite kamen. Ein
Wort gab dann das andere, und so entspann sich an manchen Orten
trotz des Abmahuens verständiger Männer eine regelrechte Schlägerei.
Es erwies sich als ungemein günstig, daß die meisten Schaffner einen
Nothverband anzulegen verstehen, doch mußte in neun Füllen ärztlicher
Beistand angerusen werden.
Abgesehen von diesen kleinen Differenzen war die in de;n ver-
sammelten Publicum herrschende Verträglichkeit und gute Stimmung
zu loben. Man führte eine lebhafte Unterhaltung, erzählte sich Märchen
und Tagesneuigkeiten und suchte sich die Zeit durch das gemeinschaft-
liche Absingen von Liedern zu vertreiben. Da man hierzu meist die
„Wacht am Nhein", das Preußenlied und andere Stücke mit patriotischem
Inhalt wählte, hatten die Beamten keinen Anlaß zum Einschreiten.
Hier und dort sah man zwei Wartende Sechsundsechzig spielen, auf
dem Briefpostamt war bald ein flotter Stehskat im Gange, dessen
wechselnder Verlauf von den Umstehenden mit großem Interesse ver-
folgt wurde. Ost ertönte in dem Gedränge der Nuf: „Nachbar, euer
Fläschchen!", und es war dann erfreulich zu sehen, wie bereitwillig einer
dem andern mit Cognac, Gilka und altem Korn aushalf.
Die nahe körperliche Berührung im Gedränge bahnte natürlich auch
zartere Beziehungen an, so daß allein auf dem Hauptpostamte in der
Mauerstraße sieben Verlobungen geschlossen wurden. Ein zufällig an-
wesender Dichter fertigte gleich die nöthigen Verlobungscarmina zum
Preise von 0,75 —1,25 Mark an und brachte beifällig aufgenommene
Hochs auf die jungen Paare aus. Leider sind, wie wir hören, die
meisten Verlobungen wieder Zurückgegangen, weil sich herausstellte, daß
die männlichen Theile schon verheirathet waren. Sieben Kinder kamen
in dem Gedränge auf die Welt, darunter auf dem Amt 47 ein Paar
gesunde Zwillinge. In allen Fällen wurde das erfreuliche^ Ereigniß
durch die zahlreich anwesenden Dichter ln schwungvollen Versen gefeiert.
Zum Schluß erwähnen wir noch einige Curiosa. Auf dem Amt 26
verlangte ein Mann mit lauter Stimme, der dienstthuende Secretär solle
ihm einen Stuhl durch das Schalterfenster herausreichen, und auf dem
Amt 51 forderte beim Ausbruch einer Schlägerei ein wild und. trotzig
aussehender Besucher von einem durchgehenden Schaffner ein Stuhlbein.
In beiden Fällen wurden die Schuldigen wegen Beamtenverhöhnung
verhaftet. Dies geschah auch einem unserer bekanntesten Lyriker, der
sich die Zeit mit Dichten vertrieb und dabei trotz des Abmahnens der
Beamten laut am Schalterfenster scandirte. Zwei zertrümmerte Scheiben
mußte er auf der Stelle bezahlen. Alles in allem genommen war der
1. April ein Nolkssesttag im schönsten Sinne des Wortes, und es ist
nur zu hoffen, daß die Neichspost recht bald wieder einmal die Ein-
führung von neuen Marken in Angriff nimmt.

Ein Rechtsanwalt in Dortmund hat die Armahme des Titels
..Justizrath" abgelehnt. Man sieht, das böse Beispiel des vr. Steffan
in Marburg wirkt nach; auch dem Dortmunder Herrn paßt es nicht,
300 M. für den neuen Titel zu zahlen. Der Negierung sind diese
trotzigen Ablehnungen, die das übermäßige Selbstgefühl in der Bürger-
schaft nur verstärken, natürlich sehr unangenehm. Sie wird daher, wie
es heißt, in Anbetracht der schlechten Zeiten und der hohen Fleischpreise
die Stempelgebühr für Titel, die an Nichtbeamte verliehen werden, be-
deutend herabsetzen. Ausgenommen sind natürlich der „Commissions-
rath", der „Oekonomierath" und der „Commerzienrath". Diese Titel
werden auch in schlechten Kartosseljahren immer willige Abnehmer finden.

Aus höheren Kreisen
Windthorst: Sieh, da kommt Lieber! <Für sich) Nun ist e. mit
der Eemüthlichkeit hier auch vorbei.
Die „Elf Scharfrichter" kommen aus München nach Berlin. Endlich
doch mal aus Bayern was Erfreuliches!

Wer wird Centrumsführer?
Wer soll nun Centrumsführer werden? Diese Frage bewegte die
Partei aufs lebhafteste, und sie beschloß die freigewordene Stelle im
Submissionswege an den Mindestfordernden zu vergeben. Als der
Eröfjnungstermin für die Angebote gekommen war, ergab sich folgendes
Resultat: Eingegangen waren genall so viel Bewerbungen wie das
Centrum im Reichstage und Landtage Abgeordnete hat. Jeder Be-
werbung lag ein Zeugniß eines Caplans über die politische und moralische
Befähigung des Candidaten zur Führerschaft bei. Diejenigen, die selber
Capläne waren, hatten in der Erwägung, daß in diesem Falle am Ende
das Sprichwort „clericus clericum non Ueeiinat" anzuwenden erlaubt sei,
sich die erforderliche Bescheinigung eigenhändig ausgestellt.
^Zur engeren Wahl gestellt wurden:
1. Abg. Spahn. Seine Offerte trug das Motto: „Zunächst alles
abschlagen". Er juchte seine Befähigung für den vacanten Posten da-
durch zu erweisen, daß alles im Leben wie bei Abstimmungen über den
Zolltarif auf den Versuch ankäme. Danach solle die Partei auch bei
ihm handeln und ihn versuchsweise als Führer installiren.
2. Abg. Bachem. Er hatte außer dem Caplanszeugniß den Be-
fähigungsnachweis als juristischer Schlangenmensch beigefügt und berief
sich auf die Haltung der „Kölnischen Volks-Zeitung", die es verstanden
habe, in allen wichtigen Fragen die verschiedensten Standpunkte von
jeder ersten bis zu jeder dritten Lesung mit derselben Ueberzeugungs-
treue zu vertreten, so daß sogar die rheinischen Nationalliberalen das
Organ für ein Blatt ihrer Partei gehalten hätten.
3. Abg. Groeber. Statt aller Ruhmredigkeiten verwies er auf
seine consultative Thätigkeit in schwierigen Fällen, wo er als Rechts-
beistand voll Leuten in Allslieferungsfragen delicater Art sich glänzend
bewährt habe; die Partei könne daher stets auf ihn zählen, wenn es
sich um Auffindung eines Ausweges handele.
4. Abg. Noeren. Er hatte nur ein Bild der Venus von Medici
mit einem „Pfui" eingereicht und als einziger auf das Caplans-
zeugniß verzichtet.
Unter den anderen Bewerbungen fielen die der Gebrüder Hoens-
broech unangenehm auf, und einer der Preisrichter meinte, der Paul
märe ihm eigentlich noch lieber, denn Jesuit bleibe immer Jesuit und
man könne nie wissen, ob er nicht als Haupt des Centrums sich für die
gute Sache werde zurückgewinnen lassen. Das von dem Erjesuiten
eingereichte Caplansvotuin über seine Führung wurde der Staats-
anwaltschaft übersandt.

Terlindens Heimkehr

Still hatte er sich weggestohlen,
2m Stehlen zeigt' er stets Geschick;
Don Tausenden mit Schrein und Johlen
Begrüßt kehrt er zu uns zurück.
Allein könnt' er den Rückweg finden
Nach Hause nicht, drum half dabei
Dem frommen Handelsmann Terlinden
Die aufmerksame Polizei.
Gottlob, daß wir^ihn wieder haben,
Und daß er nicht nach Näubersitt'
Das ganze schöne Geld vergraben —
Ein nettes Sümmchen bringt er mit.
Die Mitglieder der Zolltariscommission, die den Sommer hindurch
weitertagen wird, sollen Diäten erhalten. Außerdem wird die Reichs-
regierung jedem der Herren eine auf 200 000 Mark lautende Lebens-
versicherungspolice überreichen. Stirbt dann der eine oder andere
während der endlosen Berathung, so erhalten die Angehörigen doch
eine Entschädigung dafür, daß ihr Ernährer sich für das Vaterland
geopfert hat.
Weil bei der Erörterung der principiellen Gegensätze immer wieder
weitschweifig dieselben Gedanken vorgetragen werden, so liegt nach der
Ansicht einiger medicinischen Autoritäten die Gefahr vor, daß manche
Mitglieder der Commission im Laufe des Sommers in unheilbaren
Blödsinn verfallen. Ta ein solches Unglück ebenso schlimm wie der
Tod ist, so herrscht im Reichstage die Uebergeugung, daß die Herren
auch gegen diese Gefahr versichert werden müssen. Gleich nach den
Osterferien wird die Sache angeregt werden, und es ist kein Zweifel,
daß die Neichsregierung bei ihrer bekannten Liberalität auf den Vor-
schlag eingeht.


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