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HIER IRRT FRAU ZICKENDRAHT

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Leopold Hermann Ludwig von Boyen

»Die Zeit will nicht Worte,
sic harret der Talen.

Das Leben begehrt eine neue Gestalt.
Kir wollen uns nicht in abstracto quälen.
Nein! Praktisch das Neue
dem Alten vermählen.

Die Klugheit geht iiber Verbot
und Gewalt!"

Wie immer, wenn icb es besonders eilig
habe, trat icb gestern, als icb im Nurmi-
Tenipo dem Untergrundbahnhof zustrebte,
meine alte Freundin Hulda Zickendraht.
Wollte ich mir nicht ewigen Zorn und dau-
ernde Mißbilligung zuziehen — und mit
Hulda Zickendraht in Unfrieden zu leben,
möchte ich keinem Menschen geraten ha-
ben —, dann mußte ich mehr übel als wohl
ein Gespräch mit ihr beginnen. Mit Höf-
lichkeitsfloskeln begann ich also unser Ge-
spräch, das heißt Gespräch kann man es
kaum nennen, da mein Anteil an der Kon-
versation außerordentlich gering war. Kaum
hatte ich nämlich ganz harmlos gefragt:
„Na, Frau Zickendraht, wie geht es Ihnen
denn?“, als ein Redestrom losbrach, der
alle Deiche meiner passiven Resistenz über-
flutete. „Wie es mir jeht?“ rückfragte
Hulda, „det kann ick Ihnen janz jenau sa-
gen. Wenn man det Schlechte abrechnet und
det Jute doppelt zählt, läßt sich sagen, det
es mir so lala jeht. Ick habe uff meine ollen
Tage nochmal in den säuern Appel der Ar-
beit jebissen. Ick bin Portiöre jeworden.“
,JNanu", wunderte ich. mich, „Portiere sind
Sie geworden? Hängen Sie denn vor der
Tür oder vor dem Fenster?“ — „Ick dachte",
sagte die Zickendrahtcn, „Sie als verhält-
nismäßig jebildeter Pijaukel würden vor det
vornehmere Deutsch Verständnis uffbrin-
gcn. Aber da war ick woll uff’m Holzweg
oder uff’m Knüppeldamm, und ick muß mir
populärer ausdrücken. Portjehsche bin ick
jeworden. Ick ersetze nich bloß den Mann,
sondern sojareen ausjewachsencs Ehepaar!"
„Ach so!“ war meine Antwort, „Sie sind
Hausbesorgerin geworden!“ — „Denkste!“
schrie die Zickendrahten. „Mein Vorjänger
war ja ausjesprochen dußlich — er war es
übrijens ooch unausjcsprochen — und hat
tatsächlich det Haus besorgt. Aber ick —
nich in die la mäng! Ich denke jarnich dran!
Ick bin doch nich vom wilden Lamm jebis-
sen, ick bin doch nich mit’n jefrornen
Waschlappen jekitzelt! Hausbesorjerin —
dazu sollen se sich doch een menschenähn-
lichet Lebewesen mit ne Fleischkarte aus’n
Urwald locken! Für Hulda Zickendraht
kommt det jarnich in Frage!“ — „Aha!“
sagte ich verständnislos, „was ist denn also
Ihre Tätigkeit?“ — „Ick wohne“, sagte
Hulda, „det is eene Beschäftigung, die den
innerlich jereiften Menschen vollständig
ausfüllt. Ick wohne sojar direktemang
überm Heizkeller, ick habe es wunderbar
warm, und det is die Hauptsache. Wenn
der Mensch keene warmen Beene hat, stirbt
er von unten ab, und det soll een jräßlicher
Tod sind. — Nu bin ick natürlich nich
gnietschig und mierig — nee, allet, was
rechts und links is. det is nich mein Fall.
Ick lasse ooch andre Leute jerne an meine
warme Wohnung teilnehmen, deswejen hab
ick meine jute Stube vermietet, und in det
andre Zimmer empfange ick die Hausjehil-
finnen aus'n janzen Block, de Zeitungsfrau
und manchmal ooch den Briefträger. Nich
det ick neugierig wäre, wat so uff de Post-
karten steht, nee — aber ick nehme rein
menschlichet Interesse an de Hausbewoh-
ner, und außerdem muß man ja ooch wis-
sen, wat in de Welt vorjent. Aus diesem
kühlen Jrunde lese ick ja morjens ooch die
Zeitungen zuerst — außerdem liegt det im
eijensten Interesse der Leute, die mit de
Zeitung in der Pfote immer so lange am
Frühstückstisch jesessen haben, det se nach-
her zur Straßenbahn rennen mußten wie
'ne Wildsau, die Rhizinus jeschluckt hat.
Wie leicht kann bei die Rennerei een
Malheur passieren! Hab ick recht? Na,

bitte!" „Sehr menschenfreundlich gedacht,
Frau Zickendraht“, warf ich ein, „aber außer
der Lektüre von Zeitungen und der Konver-.
sation mit den Stützen der Hausfrau müs-
sen Sie doch noch irgend etwas anderes
zu tun haben! Ich denke da zum Beispiel
an die Säuberung der Treppen und an ähn-
liche Verrichtungen!“ — „Da kann man
wieder mal sehen“, entrüstete sich Frau
Zickendraht, „det Sie keenen Schimmer von
eener blassen Ahnung haben, uff wat es
heutzutage ankommt. Haben Se schon mal
wat läuten hören von wejen Rohstoff-Er-
sparnis und so? — Na, sehen Se! Zu wat
soll ick als denkende Portiöre det jute
Bohnerwachs verschwenden, wo doch de
Treppe sowieso wieder dreckig getreten
wird? Wozu soll ick die Lebensdauer der
wertvollen Spinnstofferzeugnisse, ick meine
der Treppenläufer, durch unvernünftiget
Auskloppen verkürzen, wo bei die Verdun-
kelung des Treppenhauses ohnehin keen Aas
erkennen kann, ob det, woruff er tritt,
Dreck is oder een injewebtes Dessin? Nee,
nee — ick verzichte aus jemeinnützigen
Jründen dadruff, det ick mir mit mein Haus
affen kann. De Mieter sind ja ooch im all-
jemeinen janz sticke. Bloß de Unjcwitter,
die olle Salatschnecke, sagte neulich mal:
.Bei Ihren Vorjänger Puseke war de Treppe
wie jeleckt. Da konnte man vom Fußboden
essen!1 ,Ach so1, sagte ick druff, .deswejen
is vor Ihre Türe der Läufer so abjekratzt!
Na, jut — ick werd’s dem Hauswirt mel-
den!“ Da hat se denn, nischt weiter jesagt
und is abjeliauen mit Rückenwind und Waf-
fenjeklirr.“

Als Hulda Zickendraht an dieser Stelle eine
Atempause machte, bemerkte ich — unter
Hinweis auf den starken Schneefall —: „Na,
ich will Sie nicht weiter aufhalten, Frau
Zickendraht! Sie müssen doch gewiß nach
Hause, um den Schnee vor der Tür zu be-
seitigen!" — Hulda lachte kurz und schrill:
„Schneeschippen? Als wie ick? Nee! Dazu
sind de Mieter da!"

„Hier irren Sie, Frau Zickendraht!“ rief
ich ihr im Weggehen zu. „Und wenn ich
Ihnen einen guten Rat geben darf, dann
seien Sie in • Zukunft nicht bloß beim
Schneebeseitigen mit dem Besen allen vor-
an! Sonst könnte leicht ein eiserner Besen
kommen und Sie wegfegen, ohne daß viel
Staub aufgewirbelt wird. Ein Platz in der
Portier-Loge ist auch heute kein Platz zum
Zuschauen, sondern einer zum Zupacken!"

WINTER IM HOCHWALD

Den Fels erstieg, demantenübersät,
im Hermelin des Winters Majestät.

Die Faust gekrarnpjt in den vereisten Bart,
hält sinnend er hier Rast von langer Fahrt.

Kein Laut, kein Lauscher stört des Alten Ruh.

Bald fallen ihm die müden Augen zu ...

Ein fernes Fuchsgebell erstirbt im Forst;

leis schwebt, ein Adler zum verschwiegnen Horst.

Und tief im Grunde tritt ein scheues Reh

Dies ist die Stunde, wo die müde Zeit
zu schlummern scheint im Schoß der Ewigkeit.

Wo uns der weitcrschloss'ne Himmel still
sein wundersam Geheimnis künden will.

Und durch die Wälder.leis von Baum zu Baum
ein Flüstern geht, ein goldner Frühlingstraum . . .
 
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