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„Grips — nicht Cripps!“

Wäre die Welt mit einigen Regiekunst-
stückchen zu ändern, dann hätte Winston
Churchill diesen Krieg längst gewonnen.
Wäre die parlamentarische Bühne die
Wirklichkeit des Lebens, dann lebte das
alte England längst wieder im Glanz ver-
gangener Zeiten. Aber die Bretter, die
die Welt bedeuten, sind nun einmal nicht
die Welt. Das ist ihr Nachteil, aber auch
ihr Vorteil. Ihr Nachteil für den Komö-
dianten, der sich selbst überschätzt, und
ihr Vorteil für den Zuschauer, der sich
gerade deshalb auch in harten Zeiten an
den Akteuren in der Welt des Scheins
erfreuen darf,ohne in derWeltderWirk-
lichkeit auf das zu verzichten, was not-
wendig ist.

So. konnten wir mit innigem Vergnügen
als fröhliche Zuschauer das kleine Ka-
binettstück verfolgen, das Winston Chur-
chill im Laufe dieses Jahres inszenierte.
Es ist das Stück mit dem Titel „Grips

Der Vorhang hob sich damals, als Sir
Stafford Cripps in der Sonne der Gunst
Stalins stand und als er doppelsinnig
als Moskauer Botschafter in London auf-
trat. Es war die Zeit, in der Winston
Churchill müde geworden war. Die Zeit,
da die Japaner mit einigen wenigen har-
ten Schlägen die englischen und die
nordamerikanischen Stellungen in Ost-
asien zerschlugen. Es waren die Wochen,
da Churchill zu Roosevelt flog und so
wenig heimbrachte, daß er das tat, was
ihm am schwersten fiel, nämlich schwieg.
In jener Zeit ging ein neuer Stern am
dunklen Himmel Englands auf: Sir Staf-
ford Cripps.

Er hatte keine Partei hinter sich, aber
er hatte Geld. Er besaß keine Idee, aber'
er sprach soviel von fremden Ideen, daß
man ihn für klug hielt. Er hatte keine
Stellung, aber er war so taktlos in sei-
nen öffentlichen Äußerungen, daß man
ihm zutraute, er würde bald eine große
Stellung haben, in der er sich Taktlosig-
keiten leisten konnte. Man sah ihn schon
als Nachfolger Winston Churchills. Es
beneidete ihn niemand um diese Chance,
aber man bewunderte ihn, weil ja
schließlich Mut dazu gehört, eine solche
Erbschaft anzutreten.

Es wäre abgeschmackt gewesen, wenn
Winston Churchill damals um diese Erb-
schaft gekämpft hätte. Er tat etwas an-
deres. Er ließ den Mr. Cripps, der so
viel redete und kritisierte, einmal arbei-
ten. Er gab ihm eine Stellung. Eine
große Stellung, nämlich die als Lord-
siegelbewahrer. Aber wenn Cripps vor-
her ein Stern unbekannter Größe ge-
wesen war, so war nunmehr seine Größe
begrenzt: es war die eines Amtes, das
es schon immer gegeben hat.

Winston Churchill gab Herrn Cripps
aber, noch mehr als ein Amt, er gab ihm
Vollmachten. Es war die Vollmacht, die
Sache mit Indien in Ordnung zu brin-
gen. Das ist etwa so, als wenn der
„Kladderadatsch" die Vollmacht be-
käme, auf seinem kriegsbeschränkten
Papier eine Enzyklopädie des Wissens
abzudrucken. Oder so, als ob Herr Chur-
chill den Bolschewisten die Vollmacht
gäbe, ihre Regierung in, Berlin aufzu-
schlagen.

Stafford Cripps war nicht klug genug,
abzulehnen, und scheiterte deshalb. Nun
war der Komet Cripps über den festen
Begriff des Lordsiegelbewahrers zu
einem Politiker der unvollendeten Auf-

gabe geworden. Auf dieser Basis stand
er in Augenhöhe mit Winston Churchill.
Jetzt ging der Kampf auf der Bühne los.
Nun kamen alle die, die Cripps mit sei-
nen Taktlosigkeiten verletzt hatte. Es
kamen die Konservativen, die bei seiner
Aufnahme in das Kriegskabinett flucht-
artig entwichen waren, und es kam da-
mit die Masse derer, die Herrn Churchill
von der Aufgabe befreiten, sich mit
einem Politiker zweiten oder dritten
Ranges noch selbst auseinanderzuset-
zen. Übrig blieb nur die Aufgabe für
Winston Churchill, die Fäden nach Mos-
kau selbst aufzugreifen, die einst Cripps
in der Hand gehalten hatte.

Tja, da war es so weit, daß Sir Stafford
Cripps eine große Zukunft — hinter sich
hatte. Da konnte er aus dem Kriegskabi-
nett scheiden und in ein Arbeitsgebiet
versetzt werden, das unter Winstons
eigener Leitung stand.

Wie gesagt — wir stehen viel zu sehr
in der Wirklichkeit des Kampfes, als daß
wir keine Freude hätten an diesem Mei-

sterstück parlamentarischer Regie. Aber
wir erlauben uns einen Einwand: Was
für uns ein heiteres Zwischenspiel, eine
Komödie abseits der Wirklichkeit ist,
das bedeutet für Winston Churchill das
Leben selbst. Dieser Mann ist verwund-
bar nicht nur an den Fronten, die Eng-
land hält, sondern auch im eigenen
Lande. Und wir glauben, daß die auf
Üer Bühne des Parlaments bewiesene
Fähigkeit nicht ausreicht für die rauhe
Wirklichkeit. Denn in der rauhen Wirk-
lichkeit steht dem gerissenen Winston
kein Deutschland gegenüber, das, wie
Stafford Cripps nach Indien, nun seine
ganze Kraft in ferne Länder wirft, um
sie dort zu vergeuden. In der rauhen
Welt der Wirklichkeit hat Winston Chur-
chill mit Mächten zu rechnen, die wis-
sen, wo die Quelle ihrer Kraft liegt, und
die nur eins wollen: Diese Qfcelle ihrer
Kraft erhalten, um mit dem Griff zur
Gurgel des Gegners, dem U-Boots-Krieg,
nicht nachzulassen.

Ja, ja, Grips ist nötig, nicht Cripps!

Kladderadatsch
 
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