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Kladderadatsch — 97.1944

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https://doi.org/10.11588/diglit.2324#0158
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Was ist England?

„Was ist England?"'— Unzählige Ant-
worten auf diese Frage sind im Laufe
der Jahre und Jahrhunderte schon ge-
geben worden, aber wohl keine war das,
was man so „objektiv“ nennt. In jede
mischte sich eine Verwünschung oder
ein Fluch, ein Racheschwur oder ein
Haßgebet. Denn dieses England war
durch Jahrhunderte der menschenfres-
sende Dämon der Welt. Und so ist es
denn ganz verständlich, daß erst eine
Zeit kommen mußte, in der aus dem
grimmigen britischen Leu ein Pudel
wurde oder ein Bettvorleger, auf den
Herr Stalin oder Herr Roosevelt beim
„Lever“ den großen Fuß setzt, auf
dem er leben möchte; so ist es denn
verständlich, daß erst diese Metamor-
phose des britischen Wappentieres voll-
endet sein mußte, ehe man eine wahr-
haft objektive Antwort auf die Frage
„Was ist England?" zu hören bekom-
men konnte

Nun es also so weit ist, blieb denn auch
wirklich das lange erwartete Wahr-
wort nicht aus. Wir verzeichnen dar-
über folgende Meldung aus Washing-

„Jedes Jahr geben die im Weißen Haus
akkreditierten Korrespondenten dem
Präsidenten ein Bankett, bei dem zur
Belustigung der Gäste VarietSvorfüh-
rungen gezeigt werden. Diesmal fand
das Bankett am 4. März statt, dem Tage,
an dem vor 11 Jahren Roosevelt in das
Weiße Haus einzog. Der bekannte ame-
rikanische Komiker Bob Hope trat auf
und erzählte von seiner Tournee durch
die U8A.-Armeelager in England. .Eng-
land, wie sie wissen“, so sagte er, .ist
das Land, das Churchill besucht, wenn
er nicht in den USA. ist“.“

Wer, wie der „Kladderadatsch", seit
nahezu hundert Jahren die Meinung
vertritt, daß man den Witz gar nicht
ernst genug nehmen kann, wird sich
der Schlagkraft dieser Formulierung
ohne weiteres beugen und die Ansicht
des Herrn Hope als richtig hinnehmen.
Es könnte aber Pedanten geben, die
sich nicht davon überzeugen lassen,
daß kein Schlagwort ohne Grund ent-
steht, und die deshalb Beweise, kon-
krete Beweise, fordern.

Denen sei zunächst einmal jene Debatte
im britischen Unterhaus ins Gedächt-
nis zurückgerufen, in deren Verlauf der
Innenminister des Kabinetts W. C. (Ka-
binett W. C. ist übrigens, wie man
gleich sehen wird, die Tautologie eines
lucus a non lucendo!) erklärte, es sei
der Volksgesundheit schädlicher, wenn
man die Slums beseitige, als wenn man
weiterhin dort Menschen „wohnen“
lasse. Denn die umquartierten Slums-
bewohner müßten ja für bessere Heime
höhere Mieten zahlen, und das könnten
sie nur, wenn sie weniger Lebensmittel
kauften. Kauften sie aber weniger Le-
bensmittel, dann nehme die Unterernäh-
rung zu. Ergo seien die Slums das beste
Mittel gegen Unterernährung.

Wenn irgendein Angehöriger eines Kul-
turvolkes nun vielleicht der Meinung
sein sollte, dergleichen ministerielle
Äußerungen seien selbst im barbari-
schen Britannien unangebracht schlech-
te Witze, der mag sich darüber belehren
lassen, daß im Lande des Herrn W. C.
selbst ein W. G. zu den Dingen des uner-
schwinglichen Luxus gehört, weil die

Britische Bilanz

Nicht mehr aus der alten Höh'
ist der Lügengreis V. 6.

Aus dem Unterhause schon
slob er jetzt ans Mikrophon;
da kann keiner unterbrechen,
niemand kann ihm widersprechen,
und was er „am Rand bemerkt",
wird aus jeden Fall „verstärkt",
und er braucht halt 'nen Verstärker,
er, der jungst noch, ein Berserker,
triumphiert: „Es ist geschasst,

Feind schmort jetzt im eignen Säst."

So erzählt' er denn verdrießlich,
was nicht allzu tröstlich schließlich.

Sein Refrain war, wie man weiß,

.wieder einmal „Blut und Schweiß".

Da jedoch die Tommies waren
eingestellt aus Siegssansaren,
seufzten sie „Mein Gott, wie mager!" -
Sie vermißten einen Schlager,
und so war denn voll und ganz
trostlos ihre Schlußbilanz:

„Churchill hat - trotz aller jüd'schen Hast -
wieder mal den Omnibus verpaßt!"

meisten Leute nicht einmal ausreichend
mit Trinkwasser versorgt werden. Hier
der Originalbericht darüber; „Wenn
man z. Zt. in England von einer Was-
serknappheit spreche, so verberge sich
dahinter nichts anderes, schreibt
.Daily Worker“, als ein reaktionäres
Manöver der besitzenden Klasse. Es
sprächen z. B. diejenigen von einer
Wasserknappheit, die die städtischen
Behörden von der Anlage neuer Wohn-
häuser in Oxhey in der Nähe von Wat-
ford abhalten wollten. Sie erklärten,
es lasse sich dort keine größere An-
zahl von Wohnhäusern bauen, da in
diesem Bezirk bereits ein akuter Was-
sermangel herrsche. Zwar sei es wahr,
daß auch andere Teile Süd- und Ost-
englands nur in unzulänglicher Weise
mit Wasser beliefert würden. Der Grund
dafür sei aber, daß es auf den wasser-
reichen britischen Inseln kein nationa-
les Wassersystem gebe. Der Großgrund-
besitz halte seine Anlage für einen zu
kostspieligen Luxus. Es gebe in Eng-
land Wasser in Hülle und Fülle, wenn
nur erst einmal das Land von der In-
teressenwirtschaft und der Gewinn-
sucht einzelner befreit sei.“

Da dem nun einmal in „Groß“-Britan-
nien so ist, und weil nach Ansicht des
derzeitigen Innenministers (der damit
wohl die Meinung der hochedlen Lords
schlechthin aussprach) die Slums der
ideale Wohn- und Lebensraum für den
englischen Durchsqhnittsbürger sind,
bemühen sich diese nicht ohne Erfolg,
auch d i e Wohnstätten zu Slums zu
machen, die das bislang noch nicht wa-
ren. Das Leibblatt des schönen Anthony
Eden weiß über dieses Thema recht
Aufschlußreiches mitzuteilen. Man
lese: Der Vandalismus in England neh-
me, wie „Yorkshire Post“ mitteilt, in
letzter Zeit in verschiedenen britischen
Städten überhand. Aus leerstehenden
Häusern würden Rohrleitungen, Bret-
ter, Fensterrahmen und alles, was sich

nur irgendwie bewegen lasse, gestoh-
len. Es gebe eine ganze Reihe von Häu-
sern, die durch rücksichtslose Zerstö-
rungswut aussähen, als seien sie von
einer Bombe getroffen worden. Die
Hauseigentümer wüßten in ihrer Ver-
zweiflung nicht, an wen sie sich um
Schutz der Häuser wenden sollten. Der
auf diese Weise angerichtete Schaden
sei oft recht beträchtlich.

Man sieht also: es liegt System in der
britischen Sozialpolitik. Die Neubauten
kriegen kein Trinkwasser, die Menschen
leben in Slums, die alten Häuser stehen
leer und werden verwüstet. Und damit
sich die Leute auch auf Reisen so Vor-
kommen wie in den Londoner Elends-
quartieren, hat sich die Gewohnheit
eingebürgert, auch die Eisenbahnwagen
nach bestem Können zu zerstören. Und
da ist denn, von der Schriftleitüng der
Zeitung „News Chronicle“ auf den Plan
gerufen, sofort auch ein neunmalweiser
britischer Gelehrter, Dr. Edvard Glo-
wer, zur Stelle, um seine Landsleute zu
rechtfertigen. „News Chronicle“ berich-
tet: In Kriegszeiten, so habe Glover er-
klärt, müsse man mit einem Anwachsen
der Zerstörungen dieser Art rechnen,
da „militärische Gewaltanwendung so-
zial sanktioniert" worden sei. Das Ab-
schneiden von Lederriemen sei im übri-
gen genau so wie das Abschneiden von
Schweineschwänzen ein Beweis für die
jugendliche Kraft des englischen Vol-

Wer kann da noch zweifeln, daß der
USA.-Komiker Hope recht hat: ein
Land, in dem ein Minister derartigen
Unsinn äußern kann wie der Lobredner
der Slums, ein Land, das keinen ande-
ren Beweis für die „jugendliche Kraft
des Volkes“ zu erbringen vermag, als
das Demolieren von Eisenbahnwagen
und das Abschneiden von Schweine-
schwänzen, ist in der Tat nichts ande-
res mehr als das Objekt fauler Witze.
Und das von Rechts wegen!

Kladderadatsch
 
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