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Kladderadatsch — 97.1944

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https://doi.org/10.11588/diglit.2324#0310
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Personalmangel

In den plutokratischen Ländern wird das
Wort „vertrösten“ meistens mit u geschrie-
ben: vertrusten, und gegen die Vertrustung
kommt keine Vertröstung auf. Der Mensch
muß sich wohl oder übel mit der Tatsache
abfinden, daß er nicht mehr ist als nur ein
winzig kleines Maschinenteil an jenem Band,
auf dem den Trustherren Riesenprofite zu-
fließen.

Wie das aber nun einmal so zu kommen
pflegt, wenn die plutokratischen Rebbach-
hyänen von ihren genormten Einheitsmen-
schen mehr verlangen als nur die geist-
tötende Arbeit am laufenden Band, nämlich
das mörderische Handwerk des Krieges,
wollen sich die Lohnsklaven der Plutokraten
nicht mehr freiwillig mit dem oben darge-
stellten Schicksal abfinden, und das ist denn
auch der Grund, weshalb die Leute, die sonst
immer nur auf Vertrustung bedacht sind,
ausnahmsweise einmal ihre Zuflucht zu Ver-
tröstungen nehmen müssen. Sie vertrösten
ihre Opfer auf eine nebelhafte Zukunft,
in der es ihnen einmal hier auf Erden
himmlisch ergehen wird, weil dann der
große Sozialplan Wirklichkeit werden soll,
der den garantiert echten Wohlstand für
alle unfehlbar herbeiführt. Aber die Ver-
tröstungen finden immer weniger Gläubi-
ger in den Reihen derjenigen, denen es
mehr auf ein Stück Brot im gegenwärti-
g'n Augenblick als auf einen legendären
Schweinebraten am St. Nimmerleinstag an-
kommt. Den Lords freilich ist das ganz
gleichgültig. Ihnen genügt es, selbst viele
Vorfahren zu haben, deshalb ist es für sie
ohne Belang, ob die andern gesunde Nach-
kommen, und ob diese Nachkommen Lebens-
möglichkeiten haben werden. Sie fühlen
sich durch die — immerhin noch bescheide-
nen — Wünsche ihrer Arbeiter belästigt,
und sie sehnen sich sozusagen nach einem
sozialen Winter, weil dann die Leute, denen
man im Sommer vergeblich einen Hitzschlag
gewünscht hat, vielleicht doch noch erfrie-
ren können. Und mit ihnen die Blüten-
träume einer britischen Sozialgesetzgebung.
Eine neue Ausrede der britischen Regierung
dafür, daß sie noch immer nicht ihren so-
zialen Sicherheitsplan bekanntgab, ge-
schweige denn verwirkliche, führt der politi-
sche Mitarbeiter des „Daily Sketch“ an.
Diese Verzögerung, so belehrt er die Leser,
habe ihren Grund darin, daß es der Regie-
rung an den nötigen Arbeitskräften fehle,
ihren Plan genau zu formulieren und in die
Tat umzusetzen. Der Regierungsplan sei in
seinen sozialen Verbesserungen derart weit-
gehend, wie man das bisher in keinem Lande
erzielt habe. Daher wolle die Regierung ihm
einen „besonders guten Start“ dadurch
sichern, daß sie auf den passenden Augen-
blick warte, um mit ihm vor die Öffentlich-
keit zu treten. Mit einer entsprechenden Ge-
setzgebung müsse das Volk noch Geduld
haben, um es der Regierung zu ermöglichen,
die notwendigen administrativen Vorkehrun-
gen zu treffen.

Nun wissen wir es also: nicht die privat-
kapitalistischen Versicherungsgesellschaften
haben das "bißchen Beveridge-Plan zu Fall
gebracht, sondern der gute Wille der W. C.-
Regierung, einen Plan zu planen, der so
großartig ist, daß es leider im Augenblick
an Personal mangelt, ihn auch nur auszuden-
ken. In dem bekannten Märchen „Des Kö-
nigs neue Kleider“ von Hans Christian An-
dersen kommt bekanntlich ein „Minister für
Nachdenken“ vor. Die britische Regierung,
die das Fehlen eines Sozialplans mit der Ab-
wesenheit und dem Mangel an Arbeitskräf-
ten begründet, wird überall in der Welt ohne

Möglichkeiten

3m Land der Streife» und der Sterne
sitzt Rooscocll und mörfitc gerne
5» Wallstreets Hökerin Nutz und frommen
mit Stalin zum Geschäfte kommen
und öffnet deshalb kurzerhand
den Sowjets „Gottes eignes Land".
Gleichgültig, ob man lügt und hetzt,
und ob Gesetze man verletzt,
das Weiße Haus tut taub und blind,
wenn nur die Täter Rote find.

Vorläufig macht sich das ganz schön,
doch leicht kanno mal ine Auge gehn,
giic Winston Churchill sind nicht minder
die Bolschewik! liebe Kinder.

Sie dürfen alles, waS sie wollen,
denn Albion kuscht vor Stalins Grolle»
und schickt, die ängstlich sonst geschont,
die Beilen an die schlimmc Front.

Zuerst nahm man sehr voll den Mund,
ward stiller dann von Stund zu Stund,
und eins freut jetzt ganz London bloß:
man wird die meisten ?)ankccS loS,
ansonsten aber klingt Gestöhn:

„Wie leicht kann das ins Auge gehn!"

3n Algier fühlt sich Herr de Gaulle
von Stund' zu Stunde wcn'gcr wobl.
Zwar schwört er ans den Sowjetstern,
doch traue wer den roten Herrn:

Wer heut noch stolz au der „Regierung",
ist morgen reis zur Liquidierung
und läßt, wcnn'S die Genossen wollen,
man seiner Freunde Köpfe rollen,
sagt einem doch der seine Riecher,
dass auch der eigne nicht ganz sicher.

Heut köpft man den und morgen den,
doch kannS auch leicht inS Auge gehn.

Hier die Moral als Abgcsang:

Wer Recht tut, dem ist uiemals bang,
doch ivcr der Welt mit Trug und Hetze
aufzwingen will die Plntokrätze,
und wer auS Geldgier und aus Laune
gewaltsam brach den Krieg vom Zaune,
dem wird'S mal klar, ob früh, ob spät,
daß sowaS stete ine Auge gellt.

weiteres Glauben finden. Denn einen „Mi-
nister für Nachdenken“ besitzt sie nicht.
Hätte sie einen, dann wäre es nicht zu die-
sem Kriege gekommen; wäre er erst später
aufgetaucht, der Denkminister, dann hätte
sich das Empire nicht in die Fallstricke des
Pacht- und Leihsystems locken lassen und
noch weniger hätte es seine Seele — oder
das, was es an Stelle einer Seele hat — dem
Teufel Bolschewismus verkauft.

Über einen Sprechminister hinaus hat es
diese Regierung noch nicht gebracht; na,
und den könnte ganz bequem ein Grammo-
phon ersetzen, aus welchem ja — wie das
bekannte Reklamebild behauptet — „die
Stimme seines Herrn“ spricht, genau wie
aus dem Sprechapparat des britischen Ka-
binetts die Stimme seines Herrn Stalin. —
Und zum Beweis dafür, daß es ihm wirklich
an Arbeitskräften fehlt, die das Denken und
Planen besorgen könnten, gibt das gleiche

Kabinett, das aus Personalmangel nicht ein-
mal den Entwurf eines Sozialgesetzes zu-
stande bringt, bekannt, es würden täglich
siebenhunderttausend Worte über den anglo-
amerikanischen Invasionsversuch verbreitet
werden. — Ein Sozialplan käme ja mit einem
ganz geringen Bruchteil dieses Wortschatzes
aus, aber dieser müßte vorbedacht sein, wäh-
rend die Reklameschwätzer eines Invasions-
versuches sicher sein können, daß schon sehr
bald die Leser und Hörer recht nachdenklich

Am zweckmäßigsten wäre es sicherlich, in
dem wie in jenem Falle, wenn — und dazu
reichen die vorhandenen Arbeitskräfte aus
— man alles, was man seinem Volke zu sa-
gen hat, wahrheitsgemäß in einem Wort zu-
sammenfaßte: Pleite.

Denn wie immer dieser Krieg endet, Groß-
Britannien hat ihn verloren. r0|f„.

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