Michelangelo.
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Abb. 54. Von der Decke der Sixtinischen Kapelle: Die delphische Sibylle.
(Nach einer Originalphotographie von Braun, Clement L Cie. in Dornach i. E. und Paris.)
der Seele von der ihnen zu teil gewordenen
Offenbarung ergriffen scheinen, die in ihrem
stummen Dasitzen Empfindungen gewahren
lassen, wie der gewöhnliche Sterbliche sie
nicht mitempfinden, sondern nur mit ehr-
furchtsvollem Schauer ahnen kann; sie ent-
rücken den Beschauer dem alltäglichen Dasein
und lassen ihn teilnehmen an einem über-
menschlich großartigen, von unergründlichen
Geheimnissen erfüllten Seelenleben. — Gleich
neben dem ersten Schöpfungsbilde erblicken
wir zwei der allerherrlichsten unter diesen
unvergleichlichen Gestalten. Rechts (vom
Altar aus) sitzt der Prophet Jeremias, das
ergreifende Bild eines Mannes, dessen that-
kräftigen Körper die Last der schweren Ge-
danken niederbeugt; man sieht in ihm, wie
Vasari treffend fagt, „die Schwermut, das
Grübeln, das Nachsinnen und den bitteren
Gram um seines Volkes willen". Seine
Empfindungen spiegeln sich wieder in Haltung
und Antlitz der Engelknaben, welche hinter
seinen Achseln stehen (Abb. 46). Die
Sibylle ihm gegenüber, an der links-
seitigen Anwölbung der Decke, ist als die
libysche bezeichnet. Die Tochter der afri-
kanischen Wüste erscheint in fremdartiger
Tracht. Sie ist ganz von innerer Glut er-
füllt; sie hat die Niederschrift ihrer Ein-
gebung vollendet, und um das große Buch
beiseite zu legen und zu schließen, dreht sie
sich mit lebhafter Bewegung auf dem Sitze
um, hält aber dabei den Kopf nach dem
Beschauer hingewendet, abwärts über die
Schulter blickend. Geheimnisvoll raunen
die Engelkinder miteinander, welche sie be-
gleiten (Abb. 47). Auf Jeremias folgt die
persische Sibylle, die, im Gegensatz zu der
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Abb. 54. Von der Decke der Sixtinischen Kapelle: Die delphische Sibylle.
(Nach einer Originalphotographie von Braun, Clement L Cie. in Dornach i. E. und Paris.)
der Seele von der ihnen zu teil gewordenen
Offenbarung ergriffen scheinen, die in ihrem
stummen Dasitzen Empfindungen gewahren
lassen, wie der gewöhnliche Sterbliche sie
nicht mitempfinden, sondern nur mit ehr-
furchtsvollem Schauer ahnen kann; sie ent-
rücken den Beschauer dem alltäglichen Dasein
und lassen ihn teilnehmen an einem über-
menschlich großartigen, von unergründlichen
Geheimnissen erfüllten Seelenleben. — Gleich
neben dem ersten Schöpfungsbilde erblicken
wir zwei der allerherrlichsten unter diesen
unvergleichlichen Gestalten. Rechts (vom
Altar aus) sitzt der Prophet Jeremias, das
ergreifende Bild eines Mannes, dessen that-
kräftigen Körper die Last der schweren Ge-
danken niederbeugt; man sieht in ihm, wie
Vasari treffend fagt, „die Schwermut, das
Grübeln, das Nachsinnen und den bitteren
Gram um seines Volkes willen". Seine
Empfindungen spiegeln sich wieder in Haltung
und Antlitz der Engelknaben, welche hinter
seinen Achseln stehen (Abb. 46). Die
Sibylle ihm gegenüber, an der links-
seitigen Anwölbung der Decke, ist als die
libysche bezeichnet. Die Tochter der afri-
kanischen Wüste erscheint in fremdartiger
Tracht. Sie ist ganz von innerer Glut er-
füllt; sie hat die Niederschrift ihrer Ein-
gebung vollendet, und um das große Buch
beiseite zu legen und zu schließen, dreht sie
sich mit lebhafter Bewegung auf dem Sitze
um, hält aber dabei den Kopf nach dem
Beschauer hingewendet, abwärts über die
Schulter blickend. Geheimnisvoll raunen
die Engelkinder miteinander, welche sie be-
gleiten (Abb. 47). Auf Jeremias folgt die
persische Sibylle, die, im Gegensatz zu der