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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 64.1913-1914

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Segmiller, E.: Die Kunst der Frau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8767#0213

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Die Kunst -er Zrau

von <k. Segmiller, Pforzheim-München

Im Anfang war die Tracht.

Ihre Herrschaft blieb unbestritten bis etwa zur
Mitte des verflossenen Jahrhunderts. Aus dein allei-
nigen Bedürfnis des Sichschmückens hervorgegan-
gen, wurde sie zur beständigen Verbindung von
Schmuck und Notwendigkeit für eine abgegrenzte
Geschmacksgemeinde. Der Formausdruck, den sie
gebar, ist so charakteristisch, daß seine Unterschiede
und Gemeinsamkeiten sofort erkannt werden. Die
Griechen trugen sich anders wie die Römer, die
Byzantiner anders als die Gotiker. Ausläufer dieser
Völkertrachten sind die Volkstrachten. Sich zwar
auf kleinere Gebiete erstreckend, sind sie kaum
weniger eigenartig. Der Wallone kleidet sich anders
als der Walliser. Lin Merkmal zeichnet aber die
Völker- wie die Volkstracht aus: das Gemeinsame
der Gewandform für viele.

Da kam die Zeit des von Nietzsche eingeleiteten
Individualismus. Der Morgen des Maschinenzeit-
alters graute und die Farben- und Formenpracht
der Tracht verschwand. Kümmerliche Fragmente
suchen wir künstlich aufzupäppeln, weil wir fühlen:
unsagbar Künstlerisches ist zugrunde gegangen.
Traurig genug, daß der tolle Mummenschanz des
Karnevals uns die Größe des Verlustes beweisen
muß. Lin Fest im Geist der Renaissance in den
stinrmungsvollen Räumen des Münchener Künstler-
Hauses ließ mich so recht erkennen, was es heißt
„Kultur der Kleidung", was hat die Luxusent-
faltung unserer Zeit dem gegenüber zu bedeuten!
überall suchte sich der Mensch der Renaissance
ästhetische Befriedigung, ganz besonders aber in der
Tracht, im Schmuck. Line Gesellschaft, die von Kraft
und Schönheit strotzte, täuschte jenes prächtige Fest
uns vor, eine Gesellschaft, wie sie die letzten großen
Venezianer, Tintoretto und Veronese, oft geschildert
haben. Mit kleinen Mitteln arbeitete man damals
nicht; die Menschen waren von großen Leidenschaf-
ten beherrscht, die sie in Farbe materialisierten oder
in Stein bannten. Ls war eine große Zeit, deren
Machtfülle jedes ihrer Kunstwerke verkündet,
viele frühere und folgende Epochen kräftigen
Kunstimpulses ließen sich aufzählen, deren Ligenart
sich auch in der Tracht, die alle trugen, äußerten.
Da kam jene Periode, in der man sich vom Allge-
meinkleid loslöste, das Wesen des historischen Ko-
stüms verachtete. Man mied die Tradition und
fiel in die duftfarbigen Netze der Mode. Paris wurde
zum goldnen Kalb, das Dame und Dämchen von

nun an entzückt umtanzten. Der anfangs aber nur
zeitweise hypnotische Rausch wurde bald zur er-
bärmlichen Sklaverei, deren glänzender Fessel sich
die deutsche Frau heute noch nicht entwunden hat.
Ls ist aber auch zu verlockend, ein Mittel zu be-
sitzen, durch das die unbedingte wirtschaftliche Über-
legenheit über die große Menge so überzeugend zum
sichtbaren Ausdruck gebracht und die bevorzugte
gesellschaftliche Stellung augenfällig bewiesen wer-
den kann. Der Beginn der Frauenbewegung brachte
noch weitere Veränderungen. Mit Pilse der Medi-
zin warf man auch das Modekostüm über Bord und
konstruierte das Reformkostüm.

Unzweifelhaft wohnte diesem Beginnen ein guter
Kern inne: die Emanzipation von der
pariserMode. Das Wesen der deutschen Frau
soll wieder seinen eigenen Gewandausdruck erhalten.
Ls ist jedoch kaum zu übersehen, daß den neuen
Bestrebungen, die in der Schöpfung des Reform-
kleides gipfeln, verschiedene Mängel anhaften.
Man hat sich vor allem in so vielen Punkten fest-
gelegt, daß diese Kleidungsform nahezu uniform
wirkt. Dazu kommt für viele die geringe Differen-
zierungsmöglichkeit, welche den Trachtcharakter,
„die gleiche Gewandform für viele", nicht immer ver-
wischen läßt. Daran ist freilich nicht das Prinzip
schuld, sondern eher die Ausführenden, welche an
mancher Gestaltungsmöglichkeit vorübergehen. Ls
ist aber eine unbestrittene Tatsache, daß das Reform-
kleid einen Typus darstellt. Unser Zeitalter des
Individualismus fordert dagegen freiere Behand-
lung. Der Frau muß das Recht gewahrt bleiben, sich
ihrem Lharakter gemäß, ihrer Figur entsprechend
zu schmücken, vom ästhetischen Standpunkt aus
fordern wir ein Frauenkleid, das zugleich Schmuck ist.
Das Reformkleid erfüllt wohl in Linzelfällen diese
Bedingung, aber auch das Gegenteil, wenn diese
Bestrebungen geistlos schematisiert
werden. Besonders in mittleren und Klein-
städten ist letzteres unschwer zu beobachten. Lin
kleinerer oder größerer Kreis von Damen faßt gierig
die Grundsätze der Reformbestrebung auf. Man ver-
gißt jedoch, daß es ohne Geschmackskultur
eine Kultur der Frauenkleidung nicht
gibt. Namentlich durch die Pausschneiderei, die
schon deshalb, weil sie billiger ist, eifrig betrieben
wird, entstehen Kostüme, die wohl als Reform-
kostüme angesprochen werden müssen, aber mit der
erstrebten Verbesserung der Frauenkleidung nichts

Aunst und Handwerk. 64. Iahrg. Heft 8.


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