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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 76.1926

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Hildebrand, Adolf von: Einiges über die Bedeutung von Grössenverhältnissen in der Architektur von Adolf Hildebrand
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https://doi.org/10.11588/diglit.7093#0112

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EINIGES ÜBER DIE BEDEUTUNG VON GRÖSSENVERHÄLTNISSEN
IN DER ARCHITEKTUR VON ADOLF HILDEBRAND

Gar manchem werden, wenn er einmal nachts beim
Laternenschein das Gras betrachtet, die einzelnen Halme
mit ihren langen Schlagschatten wie Bäume erschienen
sein, so daß er in die sonst so einfache Wiese wie in
einen geheimnisvollenWald hineinschaute, in welchem
die Käfer als große Ungetüme hausen.

Dadurch, daß ringsherum tiefe Dunkelheit herrscht,
ist das beleuchtete Gras die einzige Welt, es tritt in kein
reales Verhältnis zur übrigen Natur, das wirkliche Grö-
ßenmaß hört auf zu sprechen und nun fängt nur die
kleine Welt des Grases an zu wirken und sie wird reich
und reicher und zum hohenWalde, nur wie aus derFerne
gesehen, oder als wären wir selber zu ihrem Maßstabe
zusammengeschrumpft. DieVorstellung der wirklichen
Größe, der Maßstab der Dinge wird ausgeschaltet. Eine
Art von Puppenwelt, in die wir versetzt werden, es ist
das Kästchen der neuen Melusine. Es hat diese Welt
einen geheimnisvollen, heimlichen Reiz. Wir wissen,
daß sie nicht unser ist, wir schauen jetzt hinein wie in
einen Traum, der im Wachen seine reale Bedeutung ver-
liert und doch einen Besitz in unserem Phantasieleben
und in unserer Vorstellungswelt ausmacht. Es ist die
Welt der Heinzelmännchen, der Märchen überhaupt.
Diese Welt erlischt beim Tageslicht. Der Eindruck des
wirklichen Waldes vernichtet diese Wald weit des Gra-
ses, das Gras erhält wieder sein normales Sein. Beides
tritt wieder in seine reale Beziehung. Der Gesichtspunkt,
aus dem wir beides betrachten, ist dann derselbe, das Be-
wußtsein der realen Außenwelt.

So schließen sich also diese zwei Welten eigentlich
aus und führen ihr getrenntes Dasein, wie das Wachen
undTräumen. Es gibt eine Poesie des wachen Zustandes,
in der die reale Ordnung der Dinge festgehalten wird
und eine des Traumes, die diese Ordnung ignoriert. Es
gibt aber auch eine Vermischung derbeiden Welten und
es liegt in ihr ein phantastischer Reiz, der die sogenannte
Romantik charakterisiert. Durch die Vermischung ent-
steht eine Art Gleichwertigkeit der beiden Vorstellungs-
welten. Beide prägen sich als gleich real oder als gleich
unreal ein, wir verlieren die Grenzen der beiden Welten
und verlieren uns selber in einem Halbdunkel, die Re-
gister unseres Bewußtseins gehen durcheinander.

Ganz analoge Verschiebung des Maßstabs und da-
mit der Vorstellungen kommt auch bei der architek-
tonischen Gestaltung vor. Es werden Gesamtmotive
oder einzelne Bauglieder verwendet, um kleinere Ge-
bilde zu formen. Es werden z.B. große gotische Turm-

motive als Krönung in kleinem Maßstabe wiederholt.
Deutsche Renaissanceschränke zeigen ganze Palastfas-
saden, allerlei Kleinkunst, wie Kästchen, Pokale usw.
werden als Bauten en miniature behandelt. Ein bezeich-
nendes Beispiel ist das Sebaldusgrab von Peter Vischer
in Nürnberg.

Es treten, wie gesagt, Formen, deren Entstehung mit
der Konstruktion im großen zusammenhängt, wie z.B.
Rund- und Spitzbögen — und deren Vorstellung mit
einer gewissen Größe verbunden ist, en miniature auf
und damit ist der reale Boden verlassen und das Gras
wird, um bei meinem Beispiel zu bleiben, als großer
Wald behandelt. Der Formcharakter der verschiedenen
Stile kommt dabei natürlich sehr in Betracht. Der aus-
gesprochene konstruktive Charakter eines Spitzbogens
läßt sich nicht ausmerzen. Immerhin besitzt jeder Stil
eine von dem konstruktiven Wesen genügend unab-
hängige Formsprache, um der romantischen Übertra-
gung nicht notwendig zu bedürfen.

Es ist bezeichnend, daß die Antiken diese Romantik
nicht kennen. Sie haben jeglichenGegenstand als reales
Gebilde in seinem eigenen Maßstabe und Größenver-
hältnisse zu uns neu geformt. Alles ist im hellen Tages-
licht gedacht, als Teil der realen Welt. Auch die ita-
lienischen Möbel sind als selbständige Gebilde gestaltet,
nicht als Spiel mit Erinnerungsbildern großer Bauten
behandelt. Es werden dabei eben nur Formen benutzt,
welche Funktionen ausdrücken, nicht aber im Großen
entstandene konstruktive Bauglieder, oder es erleiden
diese eine so starke Umformung, daß der konstruktive
Charakter in einen ornamentalen übergeht.

Die Wiederholung eines Motivs am selben Bau in
verschiedenen Größen, wie z. B. die unzähligen ver-
schieden großen Türmchen am Mailänder Dom, hat
noch einen weiteren Einfluß. Der Turm, der seine reale
Bedeutung als Bau hat, in den man hineingehen kann
und der also in einem real praktischen Verhältnisse zu
uns steht und sein Größenmaß verlangt, wird in klei-
nem Maßstabe, bei welchem alle diese realen Möglich-
keiten, diese reale Bedeutung aufhören, alsTurm eigent-
lich wesenlos, und nur noch als Bild, als Scheinexistenz
zum Zweck der Belastung wiederholt und dicht neben
den wirklichen realen Turm gestellt. Bei diesem Spiel
mit dem Maßstabe und mit den Vorstellungsarten wird
aber überhaupt das Gefühl des Maßstabs und der Realität
geschwächt. Es verläßt uns eine sichere Größenempfin-
dung, ähnlich wie es uns im Gebirge ergeht, wo wir

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