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schrien; dort suchten ihn seine Vertrauten heim,
verschimmelte Scheidekünstler und Adepten, alte
kabbalisierende Juden in den seltsamsten Exem-
plaren?) Mit stiller, scheuer Verwunderung sah
der junge Richter diesem Wesen und Treiben zu.
Bild 8. Titelbild zu Bechstcins Märchenbuch. Verlag Georg Wigand, Leipzig.
Die Großmutter, auch ein Original, war, obgleich
seit zwanzig Jahren blind, doch heiter und lebens-
lustig. Zu ihr, die sich gern unterhielt, kamen
so oft als möglich alle Kinder und Enkel, die
sie schwärmerisch liebte und nicht müde wurde im
Gesichte zu befühlen, um sich von ihnen ein Bild
machen zu können. Auch um sie Pflegte sich ein
auserlesener Kreis wunderbarer Käuze und Käu-
zinnen zu versammeln — ganz entgegengesetzter
Art wie jener des Großvaters —, welche ihr mit
Neuigkeiten, Berichtenund Erzählungen die dunkle
Einsamkeit erheiterten. Jn ganz anderer Weise,
aber wieder Originale, waren die Großeltern von
mütterlicher Seite, welche ein Haus mit einem
großen Garten in der Friedrichstadt (Dresden)
bewohnten. Er war ein Kaufmann, mit einer
weißen Zipfelmütze, dürr und
immer beweglich. Das ge-
rade Gegenteil war die Groß-
mama, eine dicke, phlegma-
tische Holländerin, die eine
gewisse Gravität zu entwickeln
wußte, eingedenk, daß sie eine
geborene van der Bergh und
ihr Vater ein etwas größerer
Kaufmann in Amsterdam - ge-
wesen war als ihr Gatte in
der Friedrichstadt. Ein alter
Hausfreund, ebenfalls ein Hol-
länder, im hechtgrauen Frack
mit blitzenden Stahlknöpfen,
langem spanischen Rohr, statt-
licher Perücke und Haarbeutel,
saß als täglicher Gast im klei-
nen Zimmerchen, die Daumen
umeinander drehend, und voll-
endete das Genrebild aus dem
vorigen Jahrhundert. Auch
das kaufendeLadenpublikum in
der armen Vorstadt wetteiferte,
das Kontingent interessanter
Figuren zu vervollständigen.
Dergleichen Charaktere prägten
sich der Erinnerung des Kna-
ben ein, und wenn Ludwig
Nichter später auch keine alchy-
mistischen Laboranten oder tal-
mudistischen Juden zeichnete,
so schärfte sich doch der Sinn
für Auffassung knuffiger, phi-
listeriöser Naturen, welche un-
serem Künstler mit so harm-
losem Humor prächtig gelan-
gen. Als Richter nachmals die
ChodowieckyschenKupferchenZ
kennen lernte, erschien ihm da-
mit eine Menge von alten,
längst gesehenen Bekannten.
Das waren also die Fakto-
ren, schon ein ganzes Pro-
gramm für Ludwig Richter.
Werdächte beiErwähnung von
dessen Großmutter nicht gleich an seine Märchen-
erzählerinnen und an die prächtigen Spießbürger
in den Vignetten zu Hebels Geschichten!
Jm elterlichen Hause war Kunstübung nicht
fremd. Der Vater hegte Neigung zur Land-
schaftsmalerei. Er nahm aber bald Grabstichel
und Radiernadel und arbeitete unter beengen-
den Verhältnissen, die ihn das nicht erreichen
ließen, wozu er von Natur veranlagt schien.
schrien; dort suchten ihn seine Vertrauten heim,
verschimmelte Scheidekünstler und Adepten, alte
kabbalisierende Juden in den seltsamsten Exem-
plaren?) Mit stiller, scheuer Verwunderung sah
der junge Richter diesem Wesen und Treiben zu.
Bild 8. Titelbild zu Bechstcins Märchenbuch. Verlag Georg Wigand, Leipzig.
Die Großmutter, auch ein Original, war, obgleich
seit zwanzig Jahren blind, doch heiter und lebens-
lustig. Zu ihr, die sich gern unterhielt, kamen
so oft als möglich alle Kinder und Enkel, die
sie schwärmerisch liebte und nicht müde wurde im
Gesichte zu befühlen, um sich von ihnen ein Bild
machen zu können. Auch um sie Pflegte sich ein
auserlesener Kreis wunderbarer Käuze und Käu-
zinnen zu versammeln — ganz entgegengesetzter
Art wie jener des Großvaters —, welche ihr mit
Neuigkeiten, Berichtenund Erzählungen die dunkle
Einsamkeit erheiterten. Jn ganz anderer Weise,
aber wieder Originale, waren die Großeltern von
mütterlicher Seite, welche ein Haus mit einem
großen Garten in der Friedrichstadt (Dresden)
bewohnten. Er war ein Kaufmann, mit einer
weißen Zipfelmütze, dürr und
immer beweglich. Das ge-
rade Gegenteil war die Groß-
mama, eine dicke, phlegma-
tische Holländerin, die eine
gewisse Gravität zu entwickeln
wußte, eingedenk, daß sie eine
geborene van der Bergh und
ihr Vater ein etwas größerer
Kaufmann in Amsterdam - ge-
wesen war als ihr Gatte in
der Friedrichstadt. Ein alter
Hausfreund, ebenfalls ein Hol-
länder, im hechtgrauen Frack
mit blitzenden Stahlknöpfen,
langem spanischen Rohr, statt-
licher Perücke und Haarbeutel,
saß als täglicher Gast im klei-
nen Zimmerchen, die Daumen
umeinander drehend, und voll-
endete das Genrebild aus dem
vorigen Jahrhundert. Auch
das kaufendeLadenpublikum in
der armen Vorstadt wetteiferte,
das Kontingent interessanter
Figuren zu vervollständigen.
Dergleichen Charaktere prägten
sich der Erinnerung des Kna-
ben ein, und wenn Ludwig
Nichter später auch keine alchy-
mistischen Laboranten oder tal-
mudistischen Juden zeichnete,
so schärfte sich doch der Sinn
für Auffassung knuffiger, phi-
listeriöser Naturen, welche un-
serem Künstler mit so harm-
losem Humor prächtig gelan-
gen. Als Richter nachmals die
ChodowieckyschenKupferchenZ
kennen lernte, erschien ihm da-
mit eine Menge von alten,
längst gesehenen Bekannten.
Das waren also die Fakto-
ren, schon ein ganzes Pro-
gramm für Ludwig Richter.
Werdächte beiErwähnung von
dessen Großmutter nicht gleich an seine Märchen-
erzählerinnen und an die prächtigen Spießbürger
in den Vignetten zu Hebels Geschichten!
Jm elterlichen Hause war Kunstübung nicht
fremd. Der Vater hegte Neigung zur Land-
schaftsmalerei. Er nahm aber bald Grabstichel
und Radiernadel und arbeitete unter beengen-
den Verhältnissen, die ihn das nicht erreichen
ließen, wozu er von Natur veranlagt schien.