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Hilfsbedürftige und ftrecken ihre Hände aus. Es
find Bettlergestalten, wie sie Fra Angelico wohl
an der Pforte seines Klosters in Rom täglich
fehen konnte. Sie zeigen uns, daß dieser Maler-
mönch, der in so vielen feiner Werke nur im
Himmel zu weilen scheint, mit echtem Künstler-
blick die Menschen um sich her studierte, Ver-
ständnis für menschliches Elend hatte, und die
Gabe besaß, es wahrheitsgetreu zu schildern.
So ist z. B. vorne die Figur des Blinden,
der sich an einem Stabe langsam weiter tastet
und behutsam seine Hand zum Schutze vor sich
hält, ganz aus dem Leben ge-
griffen. Dem Alten, der seine
Hand weit vorstreckt, ist das
Betteln etwas Gewohntes,
während hinter ihm ein
bleicher, abgezehrter
Mann nur zaghaft
und schüchtern die
Hand hinzuhalten
wagt. Wie aller-
liebst ist serner
das kleineKind,
das von der
Mutter an der
Hand geführt,
neugierig und
prüfend auf den
Heiligen sieht,
wie trefflich die
junge Mutter
mit ihrem Lieb-
ling auf dem
Arm, und die Klei-
ne, die sehen will,
was ihr Brüderchen
erhalten hat.
Die Freude des Mei-
sters an antiken Baufor-
men, wie sie die Renaissance
so gerne anwandte, offenbart sich
(außer auf Abb. 60 und 61) auch
auf dem Bilde, welches das V er-
hör des heiligen Laurentius
darstellt (Abb. 62). Dieses Gemälde hat den reich-
sten Hintergrund: der Schauplatz ist ja der Palast
des römischen Kaisers Decius. Der Herrscher sitzt
in römischer Cäsarentracht auf dem Richterstuhle.
Hinter ihm erhebt sich eine Marmorwand mit
dem römischen Adler in der Mitte. Sie ist durch
Pilaster und einen reichen Baldachin gegliedert
und mitBlumenschalen geschmückt, während hinter
ihr die Bäume der kaiserlichen Gärten emporragen.
Der Heilige scheint die Drohrede des Kaisers
und die am Boden liegenden Geißeln nicht zu be-
achten, sondern blickt verklärt zum Himmel. Von
der ganzen Umgebung bezeigt nur ein Jüngling
seineTeilnahme, indem er schmerzbewegt dieHände
faltet und seinen Kopf zur Seite wendet. Es ist
der heilige Romanus, der durch den Starkmut
des heiligen Laurentius bekehrt wnrde und dann
später im Kerker von ihm die heilige Taufe er-
hielt.-
Zwar gehören die Szenen aus dem Leben des
heiligen Laurentius zu den technisch vollendetsten
und am meisten vom Geist der Renaissance durch-
wehten Werken unseres Meisters, aber andere
Gemälde stehen uns zunächst vor Augen, wenn
der Name Fra Angelico genannt wird. Wir denken
dann an San Marco mit seinen Passionsbildern,
an die Kreuzabnahme und Beweinung Christi,
an die Himmelsbilder der Krönung Mariä und
des Paradieses und nicht zuletzt an die holden
Engelgestalten, die ihm den Na-
men Fra Angelico gegeben
haben.
Wie alles menschliche
Können, sowarauch
Fra Angelicos
Kunst beschränkt,
und wenn man
will,einseitig,da
erniemalswelt-
liche Gegen-
stände gemalt
hat. Seine
Werke haben
zudem manche
Fehler in der
Zeichnung, es
fehlte ihm die ge-
naueKenntnisder
Luft- und Linien-
perspektive. Auch
war ihm, dem Maler
des Himmels und des
Seelenfriedens, die Dar-
stellung dramatisch bewegter
Szenen nicht gegeben. Da er
sich aber, dessen bewußt, in den
Grenzen seines Könnens hielt, hat
er aus dem ihm eigenen Gebiete
bleibende Meisterwerke geschaffen,
so daß er, wie Burckhardt sagt, „eine
Erscheinung der höchsten Art ist, die im ganzen
Gebiet der Kunstgeschichte nicht mehr ihresgleichen
hat!"
Seine Bedeutung ist kurz und treffend
ausgedrückt auf der Gedenktafel in seinem Hei-
matsorte: „Fra Angelico — der Ruhm Jtaliens,
der Religion und der Kunst."
Für die italienische Kunst ist er das sanste
Abendrot des Mittelalters; zugleich aber glänzen
in ihm die verheißungsvollen Strahlen einer neuen
Zeit. Mit Recht zählt man ihn zu den größten
Malern derFrührenaissance, denn erwußte
die feinsten und tiefsten Stimmungen der Seele
zum Ausdruck zu bringen, er war einer der ersten
Künstler, der so liebevoll sich in die Schönheiten
der Natur vertiefte, er war der erste, der auf
dem Bilde der Heimsuchung (Abb. 9) eine ganz
Abb. 63
Krönung Mariä
Florenz, Akadcmie
(Text S. 39)
Hilfsbedürftige und ftrecken ihre Hände aus. Es
find Bettlergestalten, wie sie Fra Angelico wohl
an der Pforte seines Klosters in Rom täglich
fehen konnte. Sie zeigen uns, daß dieser Maler-
mönch, der in so vielen feiner Werke nur im
Himmel zu weilen scheint, mit echtem Künstler-
blick die Menschen um sich her studierte, Ver-
ständnis für menschliches Elend hatte, und die
Gabe besaß, es wahrheitsgetreu zu schildern.
So ist z. B. vorne die Figur des Blinden,
der sich an einem Stabe langsam weiter tastet
und behutsam seine Hand zum Schutze vor sich
hält, ganz aus dem Leben ge-
griffen. Dem Alten, der seine
Hand weit vorstreckt, ist das
Betteln etwas Gewohntes,
während hinter ihm ein
bleicher, abgezehrter
Mann nur zaghaft
und schüchtern die
Hand hinzuhalten
wagt. Wie aller-
liebst ist serner
das kleineKind,
das von der
Mutter an der
Hand geführt,
neugierig und
prüfend auf den
Heiligen sieht,
wie trefflich die
junge Mutter
mit ihrem Lieb-
ling auf dem
Arm, und die Klei-
ne, die sehen will,
was ihr Brüderchen
erhalten hat.
Die Freude des Mei-
sters an antiken Baufor-
men, wie sie die Renaissance
so gerne anwandte, offenbart sich
(außer auf Abb. 60 und 61) auch
auf dem Bilde, welches das V er-
hör des heiligen Laurentius
darstellt (Abb. 62). Dieses Gemälde hat den reich-
sten Hintergrund: der Schauplatz ist ja der Palast
des römischen Kaisers Decius. Der Herrscher sitzt
in römischer Cäsarentracht auf dem Richterstuhle.
Hinter ihm erhebt sich eine Marmorwand mit
dem römischen Adler in der Mitte. Sie ist durch
Pilaster und einen reichen Baldachin gegliedert
und mitBlumenschalen geschmückt, während hinter
ihr die Bäume der kaiserlichen Gärten emporragen.
Der Heilige scheint die Drohrede des Kaisers
und die am Boden liegenden Geißeln nicht zu be-
achten, sondern blickt verklärt zum Himmel. Von
der ganzen Umgebung bezeigt nur ein Jüngling
seineTeilnahme, indem er schmerzbewegt dieHände
faltet und seinen Kopf zur Seite wendet. Es ist
der heilige Romanus, der durch den Starkmut
des heiligen Laurentius bekehrt wnrde und dann
später im Kerker von ihm die heilige Taufe er-
hielt.-
Zwar gehören die Szenen aus dem Leben des
heiligen Laurentius zu den technisch vollendetsten
und am meisten vom Geist der Renaissance durch-
wehten Werken unseres Meisters, aber andere
Gemälde stehen uns zunächst vor Augen, wenn
der Name Fra Angelico genannt wird. Wir denken
dann an San Marco mit seinen Passionsbildern,
an die Kreuzabnahme und Beweinung Christi,
an die Himmelsbilder der Krönung Mariä und
des Paradieses und nicht zuletzt an die holden
Engelgestalten, die ihm den Na-
men Fra Angelico gegeben
haben.
Wie alles menschliche
Können, sowarauch
Fra Angelicos
Kunst beschränkt,
und wenn man
will,einseitig,da
erniemalswelt-
liche Gegen-
stände gemalt
hat. Seine
Werke haben
zudem manche
Fehler in der
Zeichnung, es
fehlte ihm die ge-
naueKenntnisder
Luft- und Linien-
perspektive. Auch
war ihm, dem Maler
des Himmels und des
Seelenfriedens, die Dar-
stellung dramatisch bewegter
Szenen nicht gegeben. Da er
sich aber, dessen bewußt, in den
Grenzen seines Könnens hielt, hat
er aus dem ihm eigenen Gebiete
bleibende Meisterwerke geschaffen,
so daß er, wie Burckhardt sagt, „eine
Erscheinung der höchsten Art ist, die im ganzen
Gebiet der Kunstgeschichte nicht mehr ihresgleichen
hat!"
Seine Bedeutung ist kurz und treffend
ausgedrückt auf der Gedenktafel in seinem Hei-
matsorte: „Fra Angelico — der Ruhm Jtaliens,
der Religion und der Kunst."
Für die italienische Kunst ist er das sanste
Abendrot des Mittelalters; zugleich aber glänzen
in ihm die verheißungsvollen Strahlen einer neuen
Zeit. Mit Recht zählt man ihn zu den größten
Malern derFrührenaissance, denn erwußte
die feinsten und tiefsten Stimmungen der Seele
zum Ausdruck zu bringen, er war einer der ersten
Künstler, der so liebevoll sich in die Schönheiten
der Natur vertiefte, er war der erste, der auf
dem Bilde der Heimsuchung (Abb. 9) eine ganz
Abb. 63
Krönung Mariä
Florenz, Akadcmie
(Text S. 39)