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Die Kunst dem Volke <München> — 1911 (Nr. 5-8)

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Moritz von Schwind
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durchdachte und gmndlich ausgereifte Märchen „Von
den sieben Rabeu", welches er in unglaub-
lich kurzer Zeit, bis zurn Sommer 1858, in fünfzehn
zartgetonten Aquarellzeichnungen vollendete.

Mit dem vollen Orchester einer Ouvertüre ist das
Ganze durch eine Vorhalle eiugeleitet (Abb. 45),
wo, wiein einerKinderstube, das Märchen erzählt wird.
Jm Mittelpunkt sitzt die Urahne, an deren Lippen die
Augen der kleineu Welt hängen, ihr zunächst hat der
Genius der Malerei und seitwärts auch die Musika
lauschend sich hingeschmiegt; das Anditorium ist von
der eigenen Familie des Künstlers, seiner schönenFrau
mit den blühenden Kindern und einigen diesem lieben
Kreise vertrauten Angehörigen (darunter auch Ada
Geibel, der zarten, in jugendlichenr Prangen frühzeitig
dahingeschiedenen Gattin des Dichters) gebildet; zwei
fremde, nicht „ganz brave" Knäblein dürfen nicht zu-
hören, sonderu werden
von der Dienerin des
Hauses hinaus gewiesen.

Auch der Meister des
Ganzen, sein verstorben
Töchterlein mit dem Li-
lienstengel am Herzen,
hat sich im trauten Kreise
abgebildet, in die behag-
liche Ecke gedrückt, mit
wahrer Seelenlust in das
von Gott beschiedene Le-
bensglück und reizende
Familienbild blickend.

Über der Rückwand
ist in farbigen Fensterbil-
dern das Programm und
Grundthema angedeutet:

Von der mit Kindern
übergesegueten armen
Frau, welche nicht mehr
imstande, selbe zu er-
nähren, die hungernden
Knaben in Raben ver-
wünscht: Der Fluch ist
augenblicklich erfüllt mit
deu in Rabengestalt zum Fenster hinausflatternden
Sprossen; versteiut darüber bricht die Alte zusam-
men, nur das Schwesterlein eilt den grausig Ver-
wandelten in treuer Liebe nach in die Wildnis, bis
auch sie ermattet zu Boden sinkt — so findet sie
eine gute Fee, welche die Metamorphose der Brü-
der in Aussicht stellt, wenn sie sieben Jahre schwei-
gend und im hohlen Baume sitzend, Garn zu sieben
Hemden spinnen wolle! Und das gute Kind beginnt
sogleich die erlösende Prüfung.

Hiermit ist, um mit dem Parzivaldichter zu reden,
„der Aventüre Wurf gespielt und ihr Beginn erzielt":
Daran hat der Maler den Faden seiner sinnigen Dich-
tung angebuuden, die sich iu den nachfolgenden (im
wechselnden Schmuck der Ornamentik aufgebauten)
Arkaden abspinnt.

Sechs lange Jahre ist die Gute spinnend im Baum
gesessen, da geschah, daß ein junger König, des Waid-
werks pflegend, in diese stille Waldeinsmnkeit kam, das

edle Wild erspähte und von reiner Herzeliebe ergriffen,
die in ihr reich niederwallendes Haar gekleidete Maid
aus dem Baume herabnahm. Mit reichem Mantel
angetan, auf seinem Rosse sitzend, führt er auf
sein Schloß die Schweigsame, die den Finger
auf die schwellenden Lippen gelegt, ihr Geheim-
nis und Gelöbnis verschließt. ^ Von den Händen
der königlichen Schwester bräutlich geschmückt und vom
liebeseligen Prinzen zum Kirchgang geleitet, ist die
Minnigliche schon bereit, die Lippen zu öffnen und ihr
glücküberquellendes Herz auszuschütten: da erblickt sie
die hoch im Blau vorüberflatternden Rabenbrüder und
erneuert ihren Schwur — ein Bild, in welchem Schön-
heit, liebliche Anmut und unschuldige Heiterkeit mit
fürstlicher Pracht und strengstem Pflichtgefühl um den
Vorrang streiten. Das heilige Band hat sie geeint.
Jhres höchsten Glückes auch anderen teilhaftzumachen,

wandert sie an des Gat-
ten Seite vom hohen
Schlößlein nieder, als ein
Engel der Milde in die
Hütten der Notleidenden
tretend, gleich Sant Els-
pet, eine „Liebhaberin
und Trösterin der Armen,
Kranken und Siechen";
beseligend wirkte ihre
Nähe und alle Herzen
quellen über, wo sie, ein
wahres Bild des Frie-
dens, — „sie war nicht
in dem Tal geboren,
man wußte nicht, wo-
her sie kam", — erscheint
(Abb.46). Demgemäßhat
der Künstler auch in den
landschaftlichen Hinter-
grund die friedlichste
Stimmung hineingewo-
ben: eine lachende Aue,
in welcher eben ein Kir-
chenbau entsteht. Rüh-
rend ist die Hast eines
armen Kindes, das schreiend in die Strohhütte springt
uud die harten großen Taler dem alten Vater unter
die blinden Augen hält, der aus seinem arnwn Heim
tastend nach der Stelle strebt, wo die stumme Spen-
derin geräuschlos ihr Liebeswerk übt.

Es ist die Ruhe vor dem kommenden Sturm, der
sich indessen über den Glücklichen unaushaltsam zusam-
menballt. Während die immer noch schweigsame Gat-
tin, ihres Gelöbnisses eingedenk, nächtlicherweile das
Lager verläßt, um pflichteiugedenk weiter zu spinnen,
erregt sie zuerst Neugier und Verdacht des lauschenden
Gatten. Das Schicksal schreitet schnell und die Strafe
dafür, daß sie vor Ablauf der Frist den Wäld verlassen.
Die Freuden der Zukunst sind, wie Parzivals Vorbild
beweist, im voraus immer mit tiefstem Leide zu ver-
zinsen!

Der Bund wird mit zwei lieblichen Knäblein ge-
segnet, welche aber, o Wunder! unter den Händen der
pflegenden „weisen Frau", während des ersten Bades

Abb. SI (Text S. 30)

Jesus begegnet seiner Mutter
 
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