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Die Kunst dem Volke <München> — 1911 (Nr. 5-8)

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Moritz von Schwind
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Abb. S2 (Text S. 2S) Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabo

und aus deu wärmeuden Tüchern, in Raben verwan-
delt, zum offenen Fenster hinausfliegen (Abb. 47).
Schreck und Entsetzen auf allen Seiten! Während die
dienendenMägde untGeschrei sich abwenden, derGatte
über dem Geschehenen ratlos steht, Mutter und Schwe-
ster erschüttertzusammenbrechen, erscheintvorderstum-
menDulderin, allen anderen unsichtbar, die milde Fee
mitdemschonhoffnungsvoll grüneSprossen treibenden
Reis, den mahnenden Finger an die Lippen legend:
Harre, dulde und schweige! Und die arme Vielgeprüfte
gelobt es auch im Hinblick auf das Zeichen der Erlösung
urit unter der Decke erhobenen Händen. Hier ist nun
iu echt dramatischer Entwicklung, die Alten nannten
das die Spitze jeder tragischen Kunstgestaltung, der
Mittelpunkt gegipfelt, eine Szene der schreiendsten
Gegensätze, wobei der Maler in shakespearescher Weise
in Gestalt der verblüfften Amme auch dem Humor
sein Recht gelassen hat.

Daran reihen sich
zwei surchtbar ernste
Szenen. Jn den Kerker
geworfen und als Hexe
angeklagt, tvird sie im
nächtlichen Gericht von
vermummten Pflegeru
des Rechts zum Feuer-
tode verurteilt und der
Stab über die hartnäckig
Schweigende gebrochen.

Jhrem Gemahl bringt
der Fembote die besie-
gelte Urkunde in den
Palast; der königliche
Herr stürzt trostlos in
den Armen der Mutter
und Schwester zusam-
men. Die Schergen
üben ihr Recht und

sesseln pflichtgemäß mit harten Banden und Stricken
die Wehrlose und scheinbare Unholdin, welche noch
unermüdlich im Kerker gesponnen hat; noch einmal
erscheint mit hochgehaltener Sanduhr die tröstende
Fee und mahnt Schweigen und Harren, denn das
Korn der letzten Stunde ist bald abgelaufen! Beim
Austritt aus dem Kerker stürzen ihr die Krüppel,
Siechen und Armen entgegen, denen sie nur Liebes
und Gutes in Fülle gespendet, jammernd und
schreiend umklammern sie alle, sie können das Schreck-
liche nicht glauben; ihre Wohltäterin noch einmal zu
schauen, ihre mildspendenden Hände unter dankbaren
Tränen zu sassen und ihr Gewand zu küssen sind sie
hergedrängt trotz allen Gebresten — und der dadurch
bewirkte Aufenthalt und Zögerung wird zum Heile!
(Abb. 48.) Während die Reine an den Pfahl
des Scheiterhaufens gefesselt wird, ist die letzte Frist

abgelaufen, brachte die
Fee jene schwer gespon-
nenen Gewande den im
Tann hausenden Brü-
dern, von denen nur der
jüngste sein Federkleid
am Arme noch nicht
völlig abgestreift hat;
auf weißen, lustig
schnaubenden Rennern
sausen sie aus dem
Walde ihrer treu aus-
dauernden Schwester
als Zeugen ihrer Schuld-
losigkeit zu Hilfe, indes
die Fee, in hochge-
schwungener Rechten
das abgelaufene Zeit-
maß schwingend, auch
die ihrer holdseligen
Gestalt zurückgegebenen

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