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des Heilandes Leidenszeit wird uns vom Leben
der heiligen Jungfrau fast nichts berichtet. Nur
daß sie mit den Verwandten Jesu ihn habe
besuchen wollen (Matth. 12, 46. Marc. 3, 21.
Luc. 8, 19), ferner, daß eine Frau aus dem
Volke sie selig gepriesen habe (Luc. 11, 27).
Die Kunst hat aus keinem dieser Vorgänge An-
regungen geschöpft. Dafür mußte die überwäl-
tigende Tragik der Empfindungen Mariä bei der
Passion Christi um so
mächtiger auf sie wir-
ken. Was mag sie ge-
litteu haben, als er den
letzten Abschied von ihr
nahm, den zum Bei-
spiel der ältere Lucas
Cranach (1472—1553)
auf einem Bilde in
Wien so eindrucksvoll
geschildert hat. (Abb.
19.) Welche irdische
Mutter erduldete nicht
härtesten Seelen-
schmerz, wenn sieihr ge-
liebtes Kind leiden,
wenn sie es sterben
sehen muß, ohne ihm
Helfen zu können! Wie
unendlich tiefer muß
der Schmerz der Mut-
ter des Herrn gewesen
sein, als sie ihren gött-
lichen Sohn, dem eben
noch das Volk zuge-
jauchzt hatte, von der-
selben wankelmütigen
Menge verhöhnt, von
seinen Feinden zum
schmachvollenTodever-
urteilt sah. Und sie
mußte erleben, daß man
ihn mit den Uebel-
tätern zusammen zur
Richtstätte führte und
er sein Kreuz schleppen
mußte, unter dessen
Last er zusammen-
brach. Und doch raffte
er sich wieder auf
und sprach zu den
klagenden Frauen: „Weinet nicht über mich,
sondern weinet über euch und eure Kinder"
(Luc. 23, 28). Unter unendlicher Mühsal, wieder
und wieder niederstürzend, schleppte er sich hin-
auf nach Golgatha und es folgte ihm das Volk,
und Maria und Johannes waren auch dabei,
sahen, wie sie ihn seiner Kleider beraubten und
ans Kreuz schlugen. standen bei ihm unterm
Kreuze, und Jesus gab in seinen letzten Augeu-
blicken seiuer Mutter den Lieblingsjünger zum
Beschützer. Und er sprach „Es ist vollbracht" und
neigte sein Haupt und starb. Da sank die Mutter
schmerzgebrochen in die Arme der Freunde. Aber
wieder richtete sie sich auf, da nahmen sie den
teuren Leichnam vom Kreuze hernieder und legten
ihn in den Schoß der Mutter, und sie erhob Klage
um ihn, so in tiefster Seele betrübt, daß ihr
Schmerz noch nach so vielen, vielen Jahrhun-
derten in den Gemütern aller Christgläubigen
widerhallt, herzzerreißend nachklingt in der Dich-
tung, düster sich spiegelt in den Werken der Kunst.
Und dann erhoben sie
den toten Heiland und
trugen ihn zur Bestat-
tung in die finstere
Felsenhöhle. Daswar
der letzte Schmerz, der
Marien traf.
Mit herrlicher künst-
lerischer Freiheit hat
der Franzose Paul
Delaroche, deriuParis
1797 geboren ward und
1856 ebendaselbst starb,
den furchtbaren Ein-
druck der Kreuztra-
gung auf einem jener
Herrlichen Gemälde ge-
schildert, die er in der
tiefen Trauer über
den Tod seiner Ge-
mahlin geschaffen hat.
(Abb. 20.) Kaum eine
Andeutung des Vor-
ganges selbst ist auf
dem Bilde — nur eine
Tafel mit den Buch-
staben I X U I (die
Tafel, die über dem
Kreuze des Herrn an-
gebracht wurde), wird
in dem verworrenen
Etwas deutlich, das
durch das kleine Fen-
ster draußen auf der
Straße zu sehen ist.
Drinnen ein unheim-
liches Halbdunkel. Be-
tend und klagend sind
die Freunde des
Heilandes beisammen,
neben dem Fenster
Johannes, von einem andern Jünger nur mit
Mühe zurückgehalten. Magdalena liegt überwäl-
tigt vom Jammer auf dem Fußboden, sie hat
wohl einen Blick aus dem Fenster geworfen und
ist zusammengebrochen. Jn der Mitte des Nau-
mes aberknietdieMutter in namenlosemSchmerze.
Wie gebannt hängt ihr Blick an dem Schreckbilde,
das alle sehen, nur der Beschauer des Bildes
nicht. — Auch ein ganz modernerMeister, der Bel-
gier Wante, hat, obwohl er die Szene auf die
Straße verlegt, doch die Kreuztragung selbst in
den Hintergrund gerückt, so daß sie ihre Wirkung
Abb. 3? Phol. F. Bruckmann
P. P. Rubcns. Tie Hcrabkunft des Hl. Geistes iText S. 82)
München, Pinakothek
des Heilandes Leidenszeit wird uns vom Leben
der heiligen Jungfrau fast nichts berichtet. Nur
daß sie mit den Verwandten Jesu ihn habe
besuchen wollen (Matth. 12, 46. Marc. 3, 21.
Luc. 8, 19), ferner, daß eine Frau aus dem
Volke sie selig gepriesen habe (Luc. 11, 27).
Die Kunst hat aus keinem dieser Vorgänge An-
regungen geschöpft. Dafür mußte die überwäl-
tigende Tragik der Empfindungen Mariä bei der
Passion Christi um so
mächtiger auf sie wir-
ken. Was mag sie ge-
litteu haben, als er den
letzten Abschied von ihr
nahm, den zum Bei-
spiel der ältere Lucas
Cranach (1472—1553)
auf einem Bilde in
Wien so eindrucksvoll
geschildert hat. (Abb.
19.) Welche irdische
Mutter erduldete nicht
härtesten Seelen-
schmerz, wenn sieihr ge-
liebtes Kind leiden,
wenn sie es sterben
sehen muß, ohne ihm
Helfen zu können! Wie
unendlich tiefer muß
der Schmerz der Mut-
ter des Herrn gewesen
sein, als sie ihren gött-
lichen Sohn, dem eben
noch das Volk zuge-
jauchzt hatte, von der-
selben wankelmütigen
Menge verhöhnt, von
seinen Feinden zum
schmachvollenTodever-
urteilt sah. Und sie
mußte erleben, daß man
ihn mit den Uebel-
tätern zusammen zur
Richtstätte führte und
er sein Kreuz schleppen
mußte, unter dessen
Last er zusammen-
brach. Und doch raffte
er sich wieder auf
und sprach zu den
klagenden Frauen: „Weinet nicht über mich,
sondern weinet über euch und eure Kinder"
(Luc. 23, 28). Unter unendlicher Mühsal, wieder
und wieder niederstürzend, schleppte er sich hin-
auf nach Golgatha und es folgte ihm das Volk,
und Maria und Johannes waren auch dabei,
sahen, wie sie ihn seiner Kleider beraubten und
ans Kreuz schlugen. standen bei ihm unterm
Kreuze, und Jesus gab in seinen letzten Augeu-
blicken seiuer Mutter den Lieblingsjünger zum
Beschützer. Und er sprach „Es ist vollbracht" und
neigte sein Haupt und starb. Da sank die Mutter
schmerzgebrochen in die Arme der Freunde. Aber
wieder richtete sie sich auf, da nahmen sie den
teuren Leichnam vom Kreuze hernieder und legten
ihn in den Schoß der Mutter, und sie erhob Klage
um ihn, so in tiefster Seele betrübt, daß ihr
Schmerz noch nach so vielen, vielen Jahrhun-
derten in den Gemütern aller Christgläubigen
widerhallt, herzzerreißend nachklingt in der Dich-
tung, düster sich spiegelt in den Werken der Kunst.
Und dann erhoben sie
den toten Heiland und
trugen ihn zur Bestat-
tung in die finstere
Felsenhöhle. Daswar
der letzte Schmerz, der
Marien traf.
Mit herrlicher künst-
lerischer Freiheit hat
der Franzose Paul
Delaroche, deriuParis
1797 geboren ward und
1856 ebendaselbst starb,
den furchtbaren Ein-
druck der Kreuztra-
gung auf einem jener
Herrlichen Gemälde ge-
schildert, die er in der
tiefen Trauer über
den Tod seiner Ge-
mahlin geschaffen hat.
(Abb. 20.) Kaum eine
Andeutung des Vor-
ganges selbst ist auf
dem Bilde — nur eine
Tafel mit den Buch-
staben I X U I (die
Tafel, die über dem
Kreuze des Herrn an-
gebracht wurde), wird
in dem verworrenen
Etwas deutlich, das
durch das kleine Fen-
ster draußen auf der
Straße zu sehen ist.
Drinnen ein unheim-
liches Halbdunkel. Be-
tend und klagend sind
die Freunde des
Heilandes beisammen,
neben dem Fenster
Johannes, von einem andern Jünger nur mit
Mühe zurückgehalten. Magdalena liegt überwäl-
tigt vom Jammer auf dem Fußboden, sie hat
wohl einen Blick aus dem Fenster geworfen und
ist zusammengebrochen. Jn der Mitte des Nau-
mes aberknietdieMutter in namenlosemSchmerze.
Wie gebannt hängt ihr Blick an dem Schreckbilde,
das alle sehen, nur der Beschauer des Bildes
nicht. — Auch ein ganz modernerMeister, der Bel-
gier Wante, hat, obwohl er die Szene auf die
Straße verlegt, doch die Kreuztragung selbst in
den Hintergrund gerückt, so daß sie ihre Wirkung
Abb. 3? Phol. F. Bruckmann
P. P. Rubcns. Tie Hcrabkunft des Hl. Geistes iText S. 82)
München, Pinakothek