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Wir ergötzen uns zuerst an den Medaillons
an der Decke, welche in Frauengestalten von ent-
zückender Amnut, umgeben von Putti, jene vier
Zweige höchsten geistigen Schaffens darstellen.
Die schönsten Figuren sind die der Poesie und
Theologie. Die Poesie (Abb. 32), die allein Flügel
hat, die jugendliche Stirne mit Lorbeer umkränzt,
die Harfe inder Linken,in der Rechten ein geöffnetes
Buch, ist wie eine Sibylle, die, „vom Hauch der
Gottheit berührt" (uuuiius acktta.tur, wie die
Jnschrift auf den Tafeln der beiden Engel
neben ihr heißt), Göttliches sinnt und, was sie ver-
nommen, denMenschenkindern in heiligenBüchern
überliefert. — Aber wenn die Poesie nur wie von
oben „angehaucht" ist, dann hat und dann besitzt
die Theoiogie die Kenntnis der göttlichen Dinge:
ä 1 v 1 w u r w ur r s r u ru u o t 1 t 1 u, und vorn-
übergebeugt zeigt sie mit ihrer Rechten nach unten,
weil sie die göttliche Offenbarung der Welt dort
tief unter den Wolken verkündet, über denen sie
thront. Aber der Schleier, der sie umflattert,
deutet an, daß all unser theologisches Wissen
immer doch bloß eine notitio. ist; erst droben
wird die Erkenntnis zum entschleierten Schauen
werden.
Unser Professor lenkte unsere Blicke alsdann
auf die über dem Fenster gemalte Jurisprudenz,
wo Kaiser Justinian einem Rechtsgelehrten die
Pandekten des weltlichen,PapstGregorH einem
Advokaten der Kurie die Dekretalen des geistlichen
Rechtes überreicht. Es ist inhaltlich die schwächste
Komposition; aber dem Meister waren die Hände
gebuuden durch die ungünstigen Raumverhältnisse
über und neben dem Fenster, gebunden wohl auch
durch bestimmte Weisungen,. die der hohe Auf-
traggeber ihm erteilt hatte. — Lieber verweilen
wir bei dem Bilde der Poesie an dem gegenüber-
liegenden Fenster, das Apollo mit den Musen
und den größten Dichtern der Vergangenheit vor-
führt. Eine unbeschreibliche Anmut liegt in dem
Ganzen: hier hat Raffael offenbar mit herz-
Rotnndc vor dein Kasino Pins IV.
Phot. Alinari
Abb. 35 (Text S. 3 u. 34) Turm Leo IV. Phot. Alinari
körperlich schon gebrochen hatte Julius noch an
der Fronleichnamsprozession des Jahres 1512
teilgenommen; es war die letzte große kirchliche
Funktion, die er vornahm. Am 20. Februar
empfing er mit höchster Andacht das heiligste
Sakrament; in der Nacht auf den 21. Februar
1513 hauchte er seine starke Seele aus'). —
Jm kirchlichen Gerichtsverfahren unterscheidet
man Urteile nach dem strengen Rechte und Ent-
scheidungen auf dem Gnadenwege; je nachdem der
Papst die einen oder anderen mit seinem Namen
unterzeichnet, heißt die Unterschrift siAiratura fn-
stitias oder Li^ngtnrn
Arntio.6. Julius II. be-
auftragte 1508 den in seinem
25. Lebensjahr aus Florenz
berufenen Raffael mit der
Ausmalung des Saales, in
welchem der Papst selber
auf dem Gnadenwege ent-
scheiden wollte. Daher der
Name 8tnn2g ckolln
86Anntnrn (Abb. 31).
Hier nun führt uns nicht
mehr ein historischer Faden;
es sind die vierfreien Künste,
Philosophie und Theologie,
Dichtkunst und Rechtswissen-
schaft, die des Meisters Hand
verherrlichte.
>> Pastor, Eeschichte der Päpste,
II. Band, S. 713. Abb. 36 (Tcxt S. 35)
Wir ergötzen uns zuerst an den Medaillons
an der Decke, welche in Frauengestalten von ent-
zückender Amnut, umgeben von Putti, jene vier
Zweige höchsten geistigen Schaffens darstellen.
Die schönsten Figuren sind die der Poesie und
Theologie. Die Poesie (Abb. 32), die allein Flügel
hat, die jugendliche Stirne mit Lorbeer umkränzt,
die Harfe inder Linken,in der Rechten ein geöffnetes
Buch, ist wie eine Sibylle, die, „vom Hauch der
Gottheit berührt" (uuuiius acktta.tur, wie die
Jnschrift auf den Tafeln der beiden Engel
neben ihr heißt), Göttliches sinnt und, was sie ver-
nommen, denMenschenkindern in heiligenBüchern
überliefert. — Aber wenn die Poesie nur wie von
oben „angehaucht" ist, dann hat und dann besitzt
die Theoiogie die Kenntnis der göttlichen Dinge:
ä 1 v 1 w u r w ur r s r u ru u o t 1 t 1 u, und vorn-
übergebeugt zeigt sie mit ihrer Rechten nach unten,
weil sie die göttliche Offenbarung der Welt dort
tief unter den Wolken verkündet, über denen sie
thront. Aber der Schleier, der sie umflattert,
deutet an, daß all unser theologisches Wissen
immer doch bloß eine notitio. ist; erst droben
wird die Erkenntnis zum entschleierten Schauen
werden.
Unser Professor lenkte unsere Blicke alsdann
auf die über dem Fenster gemalte Jurisprudenz,
wo Kaiser Justinian einem Rechtsgelehrten die
Pandekten des weltlichen,PapstGregorH einem
Advokaten der Kurie die Dekretalen des geistlichen
Rechtes überreicht. Es ist inhaltlich die schwächste
Komposition; aber dem Meister waren die Hände
gebuuden durch die ungünstigen Raumverhältnisse
über und neben dem Fenster, gebunden wohl auch
durch bestimmte Weisungen,. die der hohe Auf-
traggeber ihm erteilt hatte. — Lieber verweilen
wir bei dem Bilde der Poesie an dem gegenüber-
liegenden Fenster, das Apollo mit den Musen
und den größten Dichtern der Vergangenheit vor-
führt. Eine unbeschreibliche Anmut liegt in dem
Ganzen: hier hat Raffael offenbar mit herz-
Rotnndc vor dein Kasino Pins IV.
Phot. Alinari
Abb. 35 (Text S. 3 u. 34) Turm Leo IV. Phot. Alinari
körperlich schon gebrochen hatte Julius noch an
der Fronleichnamsprozession des Jahres 1512
teilgenommen; es war die letzte große kirchliche
Funktion, die er vornahm. Am 20. Februar
empfing er mit höchster Andacht das heiligste
Sakrament; in der Nacht auf den 21. Februar
1513 hauchte er seine starke Seele aus'). —
Jm kirchlichen Gerichtsverfahren unterscheidet
man Urteile nach dem strengen Rechte und Ent-
scheidungen auf dem Gnadenwege; je nachdem der
Papst die einen oder anderen mit seinem Namen
unterzeichnet, heißt die Unterschrift siAiratura fn-
stitias oder Li^ngtnrn
Arntio.6. Julius II. be-
auftragte 1508 den in seinem
25. Lebensjahr aus Florenz
berufenen Raffael mit der
Ausmalung des Saales, in
welchem der Papst selber
auf dem Gnadenwege ent-
scheiden wollte. Daher der
Name 8tnn2g ckolln
86Anntnrn (Abb. 31).
Hier nun führt uns nicht
mehr ein historischer Faden;
es sind die vierfreien Künste,
Philosophie und Theologie,
Dichtkunst und Rechtswissen-
schaft, die des Meisters Hand
verherrlichte.
>> Pastor, Eeschichte der Päpste,
II. Band, S. 713. Abb. 36 (Tcxt S. 35)