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Die Kunst dem Volke <München> — 1913 (Nr. 13-16)

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Ein Besuch im Vatikan
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Abb. 42 (Terl S. ss> Raffael, Jesus übergibt die Schliissclgewalt Phot. Alinari

frommen Bildern des Frn Angelico, und den
Constantins-Saal und die 8aln äkll'inesnälo
und die des Heliodor. Eine lebhafte Diskussion
entwickelte fich über die Disputa.

Auf eine Bemerkung meinerseits entgegnete
der Professor:

„Man könnte sagen, die Darstellung des Him-
mels sei etwas dürftig ausgefallen im Vergleich
zu der unteren Szene, und man könnte fragen,
warum Raffael nicht die Geheime Offenbarung
des hl. Johannes aufgeschlagen habe, bevor er
feine Komposition begann. So hat er bei Seite
geworfen, was kirchliche Kunfttradition seit Jahr-
hunderten heilig gehalten hatte. Aber wäre wohl
unser Auge so auf den thronenden Welterlöser
fixiert geblieben, wenn der Meister ftatt der weni-
gen, nur fast als Einfassung dienenden Heiligen
die 24 Ältesten nebst Chören von Cherubim und
Scharen von Heiligen um das Lamm, das die
fieben Siegel löste, gesammelt hätte? Allerdings
bleibt die Frage ungelöst, warum Raffael denn
gerade jene vier Apostel, warum keine Bekenner,
warum keinen der großen Ordensstifter in seinem
Himmel malte. Auch die sechs Engel oben sähe
man gerne näher charakterisiert: ist Michael, der
Führer der himmlischen Heerscharen, istGabriel, der
Verkünder der frohen Botschaft, nicht unter ihnen?

„Was ich ihm nicht verzeihe," warf die Frau
Professor ein, „ist dies, daß er aus seiner ganzen

Komposition das weibliche Geschlecht völlig aus-
geschlossen hat. Warum fehlen denn neben den
Theologen die in frommer Anbetung vor der
Hostie knienden Frauen; warum hat Raffael auch
in den Kreis der Seligen keine Agnes, keine
Cäcilia, keine Klara ein Plätzchen finden lassen?
Selbst die Gottesmutter ist mehr in banger Scheu,
als in seliger Mutterliebe neben ihren verherr-
lichten Sohn gesetzt!"

„Auch das Vollkommenste hier auf Erden",
bemerkte ich, „ist nur relativ vollkommen; allein
wenn wir diese vier Darstellungen, welche die
8tun2u äsllu ssANutrrru schmücken, zusammen
betrachten, dann ist hier doch eine Fülle von Ge-
danken mit unübertroffener Meisterschaft zum
Ausdruck gebracht, welche diesen Saal zum höch-
sten Kleinode der Kunst gemacht hat."

„Mich zieht es zu Michelangelo in der Six-
tinischen Kapelle hin", warf der Architekt darein.
„Die Genüsse, die Raffael uns geboten, sind mir
wie Vorspeise für das, was ich mir von dem
Deckengemälde der Sixtina erhoffe.

„Zu derselben Zeit, als der jugendliche Raf-
fael diese herrlichen Bilder malte," bemerkte die
Frau Professor, „setzte der alternde Michel Angelo
seine Propheten und Sibyllen an die Decke der
Sixtina: Jener schaut mich von seiner Staffelei
aus mit heiterem Lächeln an; dieser, vertieft in
sein Werk. wird mich keines Blickes würdigen."

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